Heft 879, August 2022

Occupy Everything

David Graebers und David Wengrows Geschichte der Menschheit im Konjunktiv von Timo Luks

David Graebers und David Wengrows Geschichte der Menschheit im Konjunktiv

Die Qualität einer Polemik entscheidet sich an der Qualität der Sparringspartner, die sie herbeizitiert, um sie vor den Augen der Leserinnen und Leser kunstvoll zu zerlegen. David Graeber und David Wengrow haben mit Anfänge eine Polemik vorgelegt, auch wenn sie als wissenschaftliche Darstellung des »frühen menschlichen Soziallebens« präsentiert wird, die sich aus »den tatsächlich vorliegenden Quellen« ergebe. Überall, nicht zuletzt in populären Geschichten der Menschheit von Francis Fukuyama über Jared Diamond und Steven Pinker bis hin zu Yuval Noah Harari, entdecken Graeber und Wengrow eine »Schulbuchversion der Menschheitsgeschichte«, die auf Hobbes und Rousseau zurückgehe.

Demnach sei ein glücklicher Zustand der Gleichheit in kleinen Gemeinschaften durch die Erfindung der Landwirtschaft und die Entstehung von Städten unwiederbringlich verlorengegangen; oder aber es tobten solange die wilden Leidenschaften menschlicher Wölfe, bis Staaten entstanden, um sie zu bändigen. Gemessen an den Forschungsergebnissen der Archäologie und Anthropologie seien diese Geschichten »schlicht und einfach unwahr«, »mit schlimmen politischen Konsequenzen verbunden« und dafür verantwortlich, »dass die Vergangenheit langweiliger als nötig erscheint«. Anfänge will »eine völlig neue Darstellung der Entwicklung menschlicher Gesellschaften in den vergangenen 30 000 Jahren« sein, die nicht am Problem des Wohlstands und der ungleichen Verteilung materieller Ressourcen ansetzt, sondern an der Frage, »ob wir alle die gleiche Möglichkeit haben, an Entscheidungen mitzuwirken, die unser Zusammenleben betreffen«.

Soziale Ordnung als spielerische Versuchsanordnung

Die unvoreingenommene Kartierung der Menschheitsgeschichte lässt für Graeber und Wengrow nur eine Schlussfolgerung zu. Demnach bestehe das »Wesen unseres Menschseins« darin, »dass wir bewusste politische Akteure sind und deshalb innerhalb einer großen Bandbreite sozialer Arrangements entscheiden können«. Anfänge zeichnet diese Vielfalt nach und versucht, die These einer spielerischen Natur des Menschen zu plausibilisieren.

Graeber und Wengrow betonen emphatisch, dass die Befähigung zur Reflexion, zum spielerischen Experimentieren und zur bewussten Gestaltung des Zusammenlebens eine allgemein menschliche Fähigkeit und keine europäische Errungenschaft sei. Sie führen indigene Gesellschaften in Nordamerika an, in denen sowohl die Erzeugung der Nahrungsmittel als auch die politische Organisation einem saisonalen Wechsel unterlag; sie erwähnen Rituale und Feste, die eine andere politische Ordnung periodisch vorführten; sie verweisen auf die Neigung menschlicher Gesellschaften, sich von den Nachbarn kulturell abzugrenzen.

All dies deuten sie als Beleg einer »institutionellen Flexibilität«, durch die man die Fähigkeit erwerbe, »die Grenzen jeder gegebenen Struktur zu überschreiten und zu reflektieren – also die politischen Welten, in denen man lebt, zu schaffen, aber auch wieder abschaffen zu können«. Dass Graeber und Wengrow mit dieser These tapfere Einzelkämpfer wären, weil »die meisten modernen Denker« es »für bizarr und abwegig« hielten, »Menschen früherer Epochen reflektierte soziale Projekte oder eine bewusste Einflussnahme auf die Geschichte zuzuschreiben« – das wiederum halte ich für ein Gerücht.

Die Autoren demonstrieren ihr Argument beispielsweise an der Landwirtschaft. Ob und in welchem Umfang eine Gesellschaft zum Ackerbau übergehe, spiegele nicht in erster Linie ein ökonomisches (kalorisches) Kalkül oder ökologische Notwendigkeiten wider, sondern »die Werte und das Selbstverständnis der Menschen«. In Anlehnung an den Öko-Anarchisten Murray Bookchin sprechen sie von einer »Ökologie der Freiheit«. Bevor sich Fragen der ungleichen Verteilung einer agrarischen Überschussproduktion stellten, »versuchten sich die Menschen eher spielerisch, wenn man so will, an der Landwirtschaft und wechselten ihre Herstellungsmethoden ebenso wie sie ihre gesellschaftlichen Strukturen immer wieder ›verflüssigten‹ und veränderten«.

Diese Interpretation ist plausibel. Sie deckt sich jedoch, wie Axel T. Paul in seiner Besprechung des Buchs betont, mit nahezu jeder jüngeren Schilderung der Geschichte des Ackerbaus. Und, so muss man fragen, wie hätte es anders sein sollen: ein vollständig ausgeprägtes Produktionssystem, das irgendwann wie Manna vom neolithischen Himmel fällt?

Es ist so erstaunlich wie bedauerlich, dass sich Graeber und Wengrow bei ihrem Entwurf des immer und überall spielerisch experimentierenden Menschen nirgendwo mit Johan Huizingas Konzept des homo ludens auseinandersetzen. Huizinga hatte schließlich schon in den späten 1930er Jahren das Spiel zu einer »unbedingt primären Lebenskategorie« erklärt und darin »den überlogischen Charakter unserer Situation im Kosmos« bestätigt gesehen. Im Spiel realisiere sich »ein erfindungsreicher Geist am Rande von Scherz und Ernst«. Es sei »zunächst und vor allem ein freies Handeln«, weder physiologische Notwendigkeit noch sittliche Pflicht, sondern etwas, das man ebenso gut auch lassen könne. Huizinga betonte den »uninteressierten Charakter« des Spiels, stehe es doch »außerhalb des Prozesses der unmittelbaren Befriedigung von Notwendigkeiten und Begierden«. Gleichzeitig hob er die Abgeschlossenheit, Begrenztheit und Regelbedürftigkeit des Spiels hervor, aber auch die Tendenz zur Abspaltung neuer Spielgemeinschaften, die es bevorzugten, nach eigenen Regeln zu spielen.

Vieles von dem, was Huizinga ausführte, ließe sich durchaus mit den Überlegungen in Anfänge vereinbaren. Graeber und Wengrow belassen es allerdings lieber bei vagen Verweisen auf eine spielerische Natur des Menschen, die schließlich mit der Präferenz kollektiver Entscheidungsfindung versöhnt werden muss. Für Spielverderber, die lieber einen eigenen Klub gründen, als sich mit den Mitspielern auf gemeinsame Regeln zu einigen, für den Vorrang eines nicht frei improvisierenden, sondern regelgebundenen Spielens und – vor allem – für den grundsätzlich agonalen Charakter des Spiels als Kampf haben sie wenig Sinn. Bei Graeber und Wengrow ist all das kein Theorieproblem, sondern bestenfalls eine Frage der Metaphorisierung politischer Vorlieben.

Ihnen entgeht, wie sehr die Betonung des Spielerischen, Experimentellen und Kreativen längst im politischen und kulturellen Mainstream verankert ist. Angesichts der bereits vor längerer Zeit diagnostizierten Vereinnahmung dieser Form der »Künstlerkritik« durch den neuen Geist des Kapitalismus verspüren sie keinerlei Unbehagen. Vielmehr aktualisieren sie – unausgesprochen – eine spezifische Tradition des britischen Anarchismus, die bis in die 1940er Jahre zurückreicht. In dieser Tradition interessierten sich Autoren wie Herbert Read, John Hewetson oder Colin Ward für die Bedingungen der Möglichkeit einer Entfaltung menschlicher Potentiale und zeigten sich fasziniert von der Idee, »dass sich gerade bei Abwesenheit einer strikten äußeren Ordnung handlungskompetente soziale Gemeinschaften situationsbedingt herauskristallisierten«.

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