Denkt da wer?
Die Intelligenz künstlicher Menschen in der Literatur von Christian WiebeDie Intelligenz künstlicher Menschen in der Literatur
Drei kurze Schöpfungsszenen: Genesis – Nur wenige Tage waren ins Land gezogen, da erschafft Gott den Menschen, der bald beginnt, eigene Entscheidungen zu treffen und die Erde in seinem Sinn umzugestalten. Raphaela Edelbauer: DAVE – Alle Menschen arbeiten fieberhaft darauf hin, eine künstliche Superintelligenz zu erschaffen, die, einmal erwacht, ihre Probleme lösen soll, wie zum Beispiel die unbewohnbare Erde einigermaßen wiederherzustellen. Und vielleicht Carlo Collodi: Pinocchio – Ein Holzschnitzer bearbeitet ein eigentümliches Holz, die fertige Holzpuppe erwacht zum Leben und nimmt Reißaus.
In allen drei Geschichten kommen literarische Figuren vor, denen eine gewisse Intelligenz unterstellt werden kann. Die ersten Menschen der alttestamentlichen Schöpfungsgeschichte sollen die ersten Menschen sein, die also trotz eines beträchtlichen historischen Abstands intelligent genannt werden dürften, gleichgültig welche Definition von Intelligenz man ansetzt. Die Superintelligenz DAVE in Edelbauers Roman ist als starke KI konzipiert, die schließlich selbst denken kann. Und der kleine Pinocchio ist immerhin in der Lage zu lügen und eigene Ziele zu verfolgen. Er wäre wohl auch intelligent zu nennen. Aber wer denkt da eigentlich?
Für das Feld Literatur und KI ist zuerst eine Banalität festzuhalten: In der Regel denkt dort, wo eine künstliche Intelligenz ins Spiel kommt, keine Künstliche Intelligenz, sondern ein Autor. In Edelbauers Roman ist das brillant reflektiert, indem der Leser hineingenommen wird in das Denken einer KI. Lesen ermöglicht die Mitsicht mit einer Figur, die lebendig oder künstlich sein kann, in jedem Fall nur in der Geschichte existiert. So wie Edelbauer sich in eine KI eindenkt (oder darf man sagen: einfühlt?), mutet sie dies auch dem Leser zu. Das festzuhalten ist wichtig, weil sonst leicht alles durcheinandergerät, sobald historisch über KI und die Literatur nachgedacht wird.
Es ist allzu leicht, in der Literatur einem künstlichen Gegenstand eine Intelligenz anzudichten. Eine sprechende, vielleicht gar mordlustige Gabel – um ein sehr dummes Beispiel zu nehmen – hat noch keine künstliche Intelligenz in dem Sinne, dass damit irgendetwas für eine Literaturgeschichte der Künstlichen Intelligenz gewonnen wäre. Auch für Pinocchio oder den berühmten Golem ließe sich sagen, sie sind künstliche Menschen, aber sie haben keine Künstliche Intelligenz.
Anfang 2024 hat Stephanie Catani das Handbuch Künstliche Intelligenz und die Künste herausgegeben, das schleunigst gelobt werden sollte, bevor die Entwicklungen der KI über die Darstellungen des Buches hinweggerollt sind. Als Bestandsaufnahme und nicht zuletzt als Themeneinführung in Universitätsseminaren ist es hervorragend geeignet und erscheint damit zur rechten Zeit. Etwas weniger schnell sollten naturgemäß die historischen Teile des Buchs eingeholt werden. Überaus instruktiv ist zum Beispiel Bianca Westermanns Artikel zur Ideengeschichte der Künstlichen Intelligenz, worin sie den Blick zurücklenkt auf die Automaten im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert. Maren Conrad widmet sich der Literaturgeschichte der Künstlichen Intelligenz. Sie erzählt deren Vorgeschichte ebenfalls anhand von Automaten und künstlichen Menschen. In solch einer Vorgeschichte können viele Gestalten Platz finden, künstliche Menschen sowieso, aber wichtig wäre es, erstens, zu beschreiben, was diese Figuren systematisch von einer Künstlichen Intelligenz noch trennt, und zweitens, wie eine Künstlichkeit des Denkens in der Literatur abseits der künstlichen Menschen reflektiert wird. Zwar gibt Conrad eine historische Ordnung vor, die für das 18. und 19. Jahrhundert den Begriff »präkybernetische Moderne« kennt, aber dann wird Frankensteins Monster doch eine Künstliche Intelligenz zugeschrieben, die in ihrer Spezifik nicht abgegrenzt wird vom Nachdenken über KI und Kybernetik seit etwa der Mitte des 20. Jahrhunderts.
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