Serielle Produktionsexzesse: Verlorengehen mit Haiyti
von Christian WiebeDie Verleihung des Musikautorenpreises der GEMA in der Sparte »Text Hip-Hop«, ein aufgezeichneter Liveact, der in der ZDF-Mediathek zu finden ist, oder das vom Musikmagazin JUICE bis zur Stuttgarter Zeitung verwendete Etikett »Feuilleton-Liebling«: Die Rapperin Haiyti ist in der öffentlichen Wahrnehmung, das heißt außerhalb der Hiphop-Szene, angekommen. Zugleich ist da eine Irritation, wenn ihre Produktionen aus der Menge des deutschen Hiphop herausgehoben werden, denn die letzten drei Alben sind in solch kurzer Folge erschienen, dass man sich nun gedrängt fühlen kann, diese enorme Menge der Songs zu erklären oder sogar zu entschuldigen.
Es erschienen jedenfalls zuletzt am 3. Juli 2020 das Album Sui Sui (mit 15 Tracks), am 4. Dezember 2020 das Album Influencer (19 Tracks) und am 16. April 2021 Mieses Leben (18 Tracks). Und dann zwischen Ende Mai und Anfang Oktober 2021 die Songs Xtra Dry, Drama, No Front (feat. Sly Alone), Niemandsland, Hyperspeed, Philipp Plein (feat. Kid Trash). Dazu kommen kollaborative Arbeiten wie mit dem Rapper Haftbefehl und selbstverständlich die Musikvideos, mehr als zwanzig zwischen Anfang 2020 und September 2021.
Die schiefe, aber oft gehörte Erklärung, Musiker hätten in der Pandemie nun endlich mal Zeit für neue Songs gehabt, reicht offensichtlich nicht aus: Es ist zu viel! Die Ankündigung in der ZDF-Mediathek weist dann, ja, altväterlich darauf hin, dass Haiyti zu den »fleißigsten« Rappern gehöre. Eine – eigentlich wohlwollende – Besprechung im Deutschlandfunk merkt den Songs auf dem Album Influencer leider doch die schnelle Produktion an. Fridolin Achten vom BR-Jugendsender PULS Musik gräbt etwas tiefer, aber liegt letztlich daneben, wenn er schon 2019 die erstaunliche Frequenz ihrer Veröffentlichungen zur »Entblößung« der Musik als Wegwerfware im Streaming-Zeitalter stilisiert. Dafür muss man schon sehr ungenau hinsehen, denn einige ihrer Alben sind auch auf Vinyl erschienen.
Haiytis Produktionsexzesse irritieren – Vielschreiberei ist nicht gern gesehen, man erkennt darin ein fast untrügliches Zeichen für Flachheit und klammert schnell Jean Paul, Friedrich Nietzsche und ein paar andere Gestalten aus. In Interviews hat Haiyti auf die Geschwindigkeit der Produktionen und auf das schnelle Schreiben der Texte selbst hingewiesen, auch darauf, dass es zu schnell geht. Im Interview mit JUICE gab sie sich dann einsichtig: »Ja, das hab ich jetzt gelernt […] – aber ich donnere jetzt nicht mehr alles raus. White Girl ist krass verpufft, dabei sind da nur Hits drauf. Aber die Leute checken das gar nicht.« Und weiter auf die Frage, ob sich auch ihr Songwriting in diesem Zusammenhang verändert habe: »Manche Sachen sind rückblickend vielleicht zu schnell entstanden. Bei einigen Textstellen ärgere ich mich im Nachhinein. Jetzt hab ich das richtige Tempo gefunden.«
Das sagte Haiyti 2018 – seitdem hat ihre Produktionsgeschwindigkeit noch einmal deutlich zugenommen. »Fleiß« und »Wegwerfware« sind nicht falsch, aber nur Symptome von Produktionsprozessen, die Hartmut Rosas Beschleunigungstheorie ernst zu nehmen und umzukippen scheinen: Das Tempo der Gesellschaft hindert die Musikerin nicht an der Hauptsache, also Musik zu produzieren, stattdessen wird die Produktion selbst immer schneller. Hierbei wird die Beschleunigung nicht in der in jeder Hinsicht zeitaufwändigen Gattung des Romans goutiert – wo die unglücklichen Subjekte ohnehin vermehrt aufs geruhsame Land fliehen –, sondern in kurzen, oft weniger als zwei Minuten dauernden Songs, die kaum Zeit haben, überhaupt ein Publikum zu finden.
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