Heft 895, Dezember 2023

Verantwortung zum Verschwinden bringen

Handreichungen von Søren Kierkegaard von Christian Wiebe

Seit etwa einem halben Jahr liegt ein Zeitungsartikel vor meinem Schreibtisch – nicht: vor mir auf dem Schreibtisch, denn dort ist kein Platz mehr, sondern vor meinem Schreibtisch auf dem Laminatfußboden. Er fordert so fast täglich eine Reaktion von mir, ein Drumherum oder Hinübersteigen oder endlich In-die-Hand-Nehmen. Der Artikel stammt von Andreas Reckwitz, trägt den Titel Das Ende ist ziemlich nah und handelt von nichtlinearen Verläufen und Kipppunkten in unserer Gesellschaft: »Vielgliedrig vernetzte soziale Zusammenhänge, wie sie die heutigen Gesellschaften kennzeichnen, sind hochgradig anfällig für einzelne Irritationen, die sich kaskadenhaft verdichten und in die Katastrophe münden können.«1

Das Thema ist für das Feuilleton nicht neu – Nassim Nicholas Talebs gewaltige Bestseller beispielsweise liegen schon mehr als zehn Jahre zurück –, aber intellektuell reizvoll geblieben. Nichtlineare Verläufe erscheinen, nach Reckwitz, kontraintuitiv; sie nachzuvollziehen, verspricht also, hinter die glatte Oberfläche zu schauen. Und sie sehen auf eine interessante Weise anarchistisch aus. Der Kipppunkt teilt dann die Welt in ein unverständliches Vorher und ein Nachher à la »Das hätten wir doch wissen müssen« ein, das Reckwitz in diesem Sinne eindringlich beschreibt. Alle Verantwortung liegt damit beim »Vorher«, denn sobald etwas kippt, kippt es bereits. Es sei denn, jemand hielte den kippenden Gegenstand noch auf.

Möchten Sie weiterlesen?

Mit dem Digital-Abo erhalten Sie freien Zugang zum gesamten MERKUR, mit allen Texten von 1947 bis heute. Testen Sie 3 Monate Digital-Abo zum Sonderpreis von nur 9,90 Euro.

Jetzt Probelesen

Weitere Artikel des Autors