Heft 895, Dezember 2023

Verantwortung zum Verschwinden bringen

Handreichungen von Søren Kierkegaard von Christian Wiebe

Seit etwa einem halben Jahr liegt ein Zeitungsartikel vor meinem Schreibtisch – nicht: vor mir auf dem Schreibtisch, denn dort ist kein Platz mehr, sondern vor meinem Schreibtisch auf dem Laminatfußboden. Er fordert so fast täglich eine Reaktion von mir, ein Drumherum oder Hinübersteigen oder endlich In-die-Hand-Nehmen. Der Artikel stammt von Andreas Reckwitz, trägt den Titel Das Ende ist ziemlich nah und handelt von nichtlinearen Verläufen und Kipppunkten in unserer Gesellschaft: »Vielgliedrig vernetzte soziale Zusammenhänge, wie sie die heutigen Gesellschaften kennzeichnen, sind hochgradig anfällig für einzelne Irritationen, die sich kaskadenhaft verdichten und in die Katastrophe münden können.«

Das Thema ist für das Feuilleton nicht neu – Nassim Nicholas Talebs gewaltige Bestseller beispielsweise liegen schon mehr als zehn Jahre zurück –, aber intellektuell reizvoll geblieben. Nichtlineare Verläufe erscheinen, nach Reckwitz, kontraintuitiv; sie nachzuvollziehen, verspricht also, hinter die glatte Oberfläche zu schauen. Und sie sehen auf eine interessante Weise anarchistisch aus. Der Kipppunkt teilt dann die Welt in ein unverständliches Vorher und ein Nachher à la »Das hätten wir doch wissen müssen« ein, das Reckwitz in diesem Sinne eindringlich beschreibt. Alle Verantwortung liegt damit beim »Vorher«, denn sobald etwas kippt, kippt es bereits. Es sei denn, jemand hielte den kippenden Gegenstand noch auf.

Die Literaturwissenschaft sollte sich auskennen mit Kipp-, Wende- und Umschlagpunkten of no return, denn seit Aristoteles ist die Peripetie – der Umschlag von Glück in Unglück oder umgekehrt – bedeutsam für die Strukturanalyse literarischer Texte, und längst nicht mehr nur für Tragödien. Ein in dieser Hinsicht faszinierender Text stammt von Ludwig Tieck, Der Hexensabbat, eine Novelle aus dem Jahr 1832. Die hervorragende Reclam-Ausgabe, die Walter Münz mit Anmerkungen, historischen Dokumenten und einem dichten Nachwort versehen hatte, ist längst vergriffen. Die Wiederentdeckung scheint gescheitert.

Mir fällt allerdings kein Text der deutschen Literatur ein, der so eindringlich den Augenblick des Kippens festhält. Tieck lässt zu Beginn eine erstaunlich optimistische Gesellschaft im französischen Arras des 15. Jahrhunderts auftreten: »Die Welt ist heiter geworden und wird sich immer mehr aufhellen, das wissen die Priester selbst und verkündigen es«, so die Hoffnung der Protagonistin. Gezeigt wird eine Gesellschaft, die über Kunst und das Tagesgeschehen diskutiert, die Fröhlichkeit sucht und Liebe. Eifersucht und Machtstreben deuten sich an, aber das sollte ja kaum beunruhigen. Die Geschichte wird dann mit einem der ersten großen Hexenprozesse Europas enden, Unschuldige werden verbrannt, jeder Optimismus zerstört.

Dazwischen ist offensichtlich etwas gekippt. Und es ist gar nicht so leicht zu sagen, wann dort etwas kippt und wer verantwortlich ist, obwohl die Handlung überaus wahrscheinlich erzählt ist. Der Text verdichtet gerade nicht alles auf ein Moment und auf eine Figur, die dann die Katastrophe zu verantworten hätte, sondern führt in eine moderne gesellschaftliche Komplexität. Ein Bischof darf zwar weitgehend Fanatismus und Brutalität verkörpern, aber damit ist nichts beantwortet, sondern die Frage wird erst richtig gestellt: Wie kann die Stadtgesellschaft es so weit kommen lassen? Und wer hätte das alles stoppen können? Also: Wer trägt welche Verantwortung dafür?

Nur wenige Jahre später wird für Søren Kierkegaard die Verantwortung zu einem zentralen Thema: Kierkegaard sieht in Bezug auf die Verantwortlichkeit im modernen Staat kulturkritisch Auflösungserscheinungen. Nur zufällig erneut in Frankreich angesiedelt, eigentlich ins Allgemeine zielend, schreibt er: »Der König von Frankreich ist bekanntlich nicht verantwortlich, hingegen ist es der Minister, der Minister will es nicht sein, sondern will Minister sein, sofern der Staatssekretär seinerseits verantwortlich wird, zuletzt endet es natürlich damit, daß die Wächter oder Straßenwärter verantwortlich werden.«

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