Heft 859, Dezember 2020

Echte Leben, echte Texte

KitschKrieg und die mediale Moderne von Christian Wiebe

KitschKrieg und die mediale Moderne

Die Veröffentlichung des ersten Albums des Hiphop-Produzenteams KitschKrieg im vergangenen Sommer hat für eine gewisse Aufregung gesorgt, aber von einem Skandal wird man nicht sprechen wollen. Foucault, Butler und Nietzsche konnten diesmal liegenbleiben; Cancel Culture, die Freiheit von Meinung und Kunst, Backlash und Ressentiment standen als Schlagworte jeweils bereit, aber warfen nur ihre Schatten auf eine Kritik, die in vielen ähnlichen Fällen bisweilen als ratlos bezeichnet werden könnte. Ratlos, weil sie zu den Phänomenen selbst oft wenig zu sagen hat, sondern jede künstlerische Äußerung so bereitwillig einer theoretischen Vorannahme unterwirft, dass man »Meinungsfreiheit« oder »struktureller Rassismus« fast nicht mehr auszusprechen braucht – es wissen ohnehin alle, was gemeint ist.

Dass Differenzierung nötig ist, wie zu Recht von »beiden« Seiten eingefordert wird, führt oftmals bloß zu einer Litanei der Selbstverständlichkeiten. Also: Bestimmte Dinge, die Künstler tun, sind verabscheuungswürdig und sogar strafbar; bestimmten Aussagen von Künstlern sollte unbedingt widersprochen werden; die Freiheit von Kunst darf nicht eingeschränkt oder untergraben werden usw. usf. Das kann man alles unterschreiben, aber Differenzierung könnte sogar bedeuten, die künstlerischen Erzeugnisse einmal zu beschreiben, offener zu fragen, in welcher Weise dort beispielsweise über Identität, Freiheit und Moral gesprochen – oder gerappt – wird. Das Album von KitschKrieg ist hier differenziert, und es lohnt sich, genau hinzusehen.

Die Aufregung um das Album drehte sich um die Mitarbeit einiger Künstler, die teils einen schlechten Ruf haben, teils ganz handfest verurteilt worden sind. Vor allem der Jamaikaner Adidja Palmer, bekannt als Vybz Kartel, 2014 wegen Beteiligung an einem Mord zu lebenslanger Haft verurteilt, steht hier im Mittelpunkt. Dass seine Stimme in einem Song auf dem neuen KitschKrieg-Album zu hören ist, ist allerdings aus der Perspektive des Musikbusiness nicht singulär: Das Musikmagazin laut.de zählt allein für 2019 mehr als zwanzig Singles, an denen Vybz Kartel durch Samples beteiligt ist.

Die Karriere, die sich vom Leben des Künstlers anscheinend emanzipiert hat, ist freilich ein hervorragender Ausgangspunkt für Fragen der Cancel Culture, die hier eben nicht cancelt, sondern im Gegenteil aus dem Skandalon Kapital schlägt, als hätte es all die Debatten um Political Correctness nie gegeben. Und über die Gründe, weshalb das hier offenbar möglich ist, ließe sich spekulieren: Im Hiphop geht, was in Hollywood nicht geht; oder die juristische Verurteilung des Künstlers legitimiert die Kunst moralisch neu; oder das »Canceln« ist eben doch die Ausnahme, nicht die Regel etc. Damit hätte man das Phänomen, konkret das Album, schnell wieder hinter sich gelassen, das hier überhaupt in den Blick rücken soll.

Vybz Kartel kommt gemeinsam mit Bonez MC im Song International Criminal zu Wort. Bonez MC, dessen »asoziale Gangstamucke« in den Charts schon ganz oben stand, ist immer wieder durch seine sexistischen Texte aufgefallen. Es ist sicher kein Versehen, dass der Song so heißt, wie er heißt, und – natürlich – von Drogen, Geld und Autos handelt. Bedenkenswert, ja bedenklich ist die Zeile »Freiheit für den Boss der Welt«, die im Song mit einem verurteilten Straftäter eine ganz einfache Gleichung aufmacht: Reichtum ist Macht ist Regeln-Setzen.

Deutlich wird hier aber zugleich an genau dieser Zeile: Der Text ist – fast möchte ich »bitte« sagen – nicht mit der Realität zu verwechseln, er könnte allenfalls Wunschtraum oder Wahn sein, unbedingt bewegen wir uns in der Imagination, denn der Boss der Welt spricht ja gar nicht. Es führt nicht einmal hier ein gerader Weg vom Leben in den Text und zurück. Das festzustellen bedeutet – Selbstverständlichkeiten voraus! – keineswegs zwangsläufig, beides aus dem Reich der Ethik zu verbannen. Man kann den Text verurteilen, man kann das Privatleben von Bonez MC als unmoralisch empfinden. Aber Privatleben und Text sind nicht das Gleiche, die Übergänge sind subtil.

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