Der beste deutsche Tropenwald, den es je gab
Albert Schweitzer, Lambaréné und der Kolonialismus von Andreas EckertAlbert Schweitzer, Lambaréné und der Kolonialismus
Ein »deutscher Tropenwald«?
Wälder sind gut für das Nachdenken. Und die Art und Weise, wie wir denken, ähnelt dem Voranschreiten des Jägers durch den Wald. Diese Beobachtung stammt nicht, wie manche vielleicht denken würden, von Martin Heidegger, dem wohl waldaffinsten europäischen Philosophen, sondern von Vertretern der Gesellschaft der Fang, die seit Jahrhunderten in den Regenwäldern Zentralafrikas als Bauern und Jäger leben. Ihre Kosmologien und Überlegungen zu ihrem Verhältnis zu Umwelt und Natur und speziell zum Wald interessierten freilich jene Europäer nicht, die sich im 19. Jahrhundert aufmachten, Afrika zu erforschen, zu missionieren, ökonomisch auszubeuten und politisch zu beherrschen.
Henry Morton Stanley (1841 bis 1904) etwa, der Journalist und Entdecker, den die einheimischen Afrikaner aufgrund seiner Rücksichtslosigkeit und Gewalttätigkeit »Bula Matari« (den Zermalmer der Steine) nannten, beschrieb den tropischen Regenwald als eine Art urzeitliche Hölle, als Inbegriff des Chaos, der Maßlosigkeit und der Lebensfeindlichkeit. »Welch einen widerwärtigen Anblick zeigte jetzt das dunkle, unbebaute Land, das wie ein Feind uns gegenüberstand«, hieß es in einem seiner Reiseberichte, allesamt Bestseller, die wie wenige andere Schriften das Bild des »Urwalds« in Europa über lange Zeit prägten.
»Urwald« war überdies das prägende Epithet der missionarischen Waldschilderungen in Afrika; Missionare schrieben regelmäßig über den »Urwald« und bemühten Topoi von Undurchdringlichkeit, Eintönigkeit, Dunkel und Krankheit, von Gefahren und Tod, die hier lauerten. Anders Mary Kingsley, die 1893 dem viktorianischen England den Rücken kehrte und nach Westafrika ging, um »Käfer, Fische und Fetische« zu suchen. Sie wurde rasch zur populärsten britischen Autorität für Afrika und machte sich in ihren Schriften ein Vergnügen daraus, männliche Heldenposen zu verspotten. Kingsley fürchtete sich weder vor »Kannibalen« noch vor Sümpfen, aber auch sie ließ der tropische Regenwald konfus zurück: »Es ist, als wäre man in einer Bibliothek eingeschlossen, deren Bücher man nicht lesen kann, und man würde währenddessen gequält, geängstigt und gelangweilt.«
Das Bild vom »unberührten« und sich zugleich der »zivilisatorischen Mission« entgegenstellenden Urwald ist in der Forschung als soziales und ideologisches Konstrukt entlarvt worden. Urwaldvorstellungen sind ebenso Teil der kolonialen Ideologie wie das Klischee von der Kultur- und Geschichtslosigkeit der Kolonisierten. Vor diesem Hintergrund wurden Reisen in die tropischen Regenwälder des frühen kolonialen Afrika häufig als Reisen in die Vorzeit konzipiert, als Reisen in eine Welt, »die immer schon so war und immer so bleiben würde«, wie Mary Kingsley es fasste. Doch mit der Kolonialisierung Afrikas galt es, an diese Welt die »Axt des Fortschritts« anzulegen und durch gründliches Roden und die wirtschaftliche Nutzbarmachung seiner Ressourcen gleichsam Licht in das Dunkel des Waldes zu bringen.
Wie Michael Flitner bereits vor geraumer Zeit konstatiert hat, galt der Tropenwald lange als Antithese des deutschen Waldes. Er verwies etwa auf Elias Canettis einschlägige Zeilen in Masse und Macht (1960), in denen das Heer, »das Massensymbol der Deutschen«, als »marschierender Wald« bezeichnet wird. Was den Engländern das Meer und den Franzosen die Revolution, so Canetti, das seien den Deutschen »viele Bäume derselben Art beisammen«, deren gleiche Rinden im Geist zu den »Uniformen einer Heeresabteilung« mutieren. Dagegen hält der Schriftsteller den tropischen Wald, »eine chaotische, ungegliederte Masse, auf eine bunteste Weise belebt, die jedes Gefühl von Regel und gleichmäßiger Wiederholung ausschließt«. Zugleich spielten Tropenwald-Diskurse in Deutschland spätestens seit dem 19. Jahrhundert eine bemerkenswerte Rolle in der populären Kultur und im Kontext kolonialer Fantasien; der »Urwald« gilt in der einschlägigen Historiografie inzwischen als markanter »(post)kolonialer Erinnerungsort«.
Wohl kein anderer Ort steht mehr für die deutsche Eingemeindung des »Urwalds« als das zentralafrikanische, im heutigen Gabun gelegene Lambaréné. Dort errichtete der im Elsass geborene Arzt, Theologe, Philosoph, Organist und Bach-Interpret Albert Schweitzer (1875 bis 1965) in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg ein »Urwaldspital« mitsamt Missionsstation, das, schreibt Caroline Fetscher, gleichsam »zum besten deutschen Tropenwald« wurde, »den es je gab«.
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