Heft 868, September 2021

Globaler Kommunismus

von Andreas Eckert

Prolog: Kleinbürger, Großbürger

Im Herbst 1932 reiste Jomo Kenyatta, kenianischer Aktivist und Repräsentant der Kikuyu Central Association, die sich etwa für die Rückgabe ihres von den britischen Kolonialherren enteigneten Landes einsetzte, von London nach Moskau. Begleitet wurde er von seinem Freund, dem aus Trinidad stammenden George Padmore, der zum Führungszirkel der Kommunistischen Internationale (Komintern) gehörte. Kenyatta verbrachte das folgende akademische Jahr als Student an der Kommunistischen Universität der Werktätigen des Ostens (KUTV), einer der internationalen Kaderschulen der Komintern, die sich nicht zuletzt an Revolutionäre aus den afrikanischen und asiatischen Kolonien richtete. Padmore beschrieb das Curriculum später als ein Programm in »Geschichte, Fremdsprachen, Ökonomie, Politikwissenschaft, Partei- und Gewerkschaftsorganisation, Techniken der Propaganda und Agitation, öffentlicher Rede und Journalismus […] alles von einem marxistischen Standpunkt«.1

Die Ausstattung der KUTV war mehr als bescheiden, und für Kenyatta erwies sich das Jahr in Moskau insgesamt als frustrierendes Erlebnis. In den Akten der Komintern erscheint er als einer der Sprecher einer Gruppe von afrikanischen, karibischen und afroamerikanischen Studierenden, die sich bitter über das schlechte Essen, die heruntergekommenen Unterkünfte und das unzureichende Englisch der Lehrenden beschwerten. Die Komintern sah in ihm bald einen hoffnungslosen Fall, da er wegen seiner dezidiert antimarxistischen Haltung für die Rekrutierung in die Partei ungeeignet schien. Als künftiger Agent kam er auch deshalb nicht in Frage, weil er den britischen Behörden aufgrund seiner antikolonialen Aktivitäten bereits zu gut bekannt war. Ein südafrikanischer Mitstudent bezeichnete Kenyatta als den »größten Reaktionär«, den er je getroffen habe, und berichtete später: »In Moskau pflegten wir ihn einen Kleinbürger zu nennen. Er antworte darauf indigniert: Ich mag dieses ›klein‹ nicht. Warum nennst Du mich nicht einen Großbürger?«2

Kenyatta verließ die Sowjetunion im Frühjahr 1933 in Richtung London. Die »Machtergreifung« der Nationalsozialisten in Deutschland führte rasch zu einer Neuorientierung der Politik der Komintern. Ihr Fokus wechselte nun von der Unterstützung revolutionärer Gruppierungen in den Kolonien, welche die kapitalistischen Imperialmächte aushebeln sollten, zur Stärkung antifaschistischer Kräfte in Europa. Kenyatta galt ihnen derweil als »bürgerlicher nationaler Reformer«. In London blieb er zunächst trotzdem in regelmäßigem Kontakt mit diversen kommunistischen Organisationen und publizierte mehrere Beiträge in einschlägigen Zeitungen, darunter eine Reihe von Artikeln im Labour Monthly, bevor er sich in seiner politischen Arbeit immer stärker von den Kommunisten abwandte.

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