Globaler Kommunismus
von Andreas EckertProlog: Kleinbürger, Großbürger
Im Herbst 1932 reiste Jomo Kenyatta, kenianischer Aktivist und Repräsentant der Kikuyu Central Association, die sich etwa für die Rückgabe ihres von den britischen Kolonialherren enteigneten Landes einsetzte, von London nach Moskau. Begleitet wurde er von seinem Freund, dem aus Trinidad stammenden George Padmore, der zum Führungszirkel der Kommunistischen Internationale (Komintern) gehörte. Kenyatta verbrachte das folgende akademische Jahr als Student an der Kommunistischen Universität der Werktätigen des Ostens (KUTV), einer der internationalen Kaderschulen der Komintern, die sich nicht zuletzt an Revolutionäre aus den afrikanischen und asiatischen Kolonien richtete. Padmore beschrieb das Curriculum später als ein Programm in »Geschichte, Fremdsprachen, Ökonomie, Politikwissenschaft, Partei- und Gewerkschaftsorganisation, Techniken der Propaganda und Agitation, öffentlicher Rede und Journalismus […] alles von einem marxistischen Standpunkt«.1
Die Ausstattung der KUTV war mehr als bescheiden, und für Kenyatta erwies sich das Jahr in Moskau insgesamt als frustrierendes Erlebnis. In den Akten der Komintern erscheint er als einer der Sprecher einer Gruppe von afrikanischen, karibischen und afroamerikanischen Studierenden, die sich bitter über das schlechte Essen, die heruntergekommenen Unterkünfte und das unzureichende Englisch der Lehrenden beschwerten. Die Komintern sah in ihm bald einen hoffnungslosen Fall, da er wegen seiner dezidiert antimarxistischen Haltung für die Rekrutierung in die Partei ungeeignet schien. Als künftiger Agent kam er auch deshalb nicht in Frage, weil er den britischen Behörden aufgrund seiner antikolonialen Aktivitäten bereits zu gut bekannt war. Ein südafrikanischer Mitstudent bezeichnete Kenyatta als den »größten Reaktionär«, den er je getroffen habe, und berichtete später: »In Moskau pflegten wir ihn einen Kleinbürger zu nennen. Er antworte darauf indigniert: Ich mag dieses ›klein‹ nicht. Warum nennst Du mich nicht einen Großbürger?«2
Kenyatta verließ die Sowjetunion im Frühjahr 1933 in Richtung London. Die »Machtergreifung« der Nationalsozialisten in Deutschland führte rasch zu einer Neuorientierung der Politik der Komintern. Ihr Fokus wechselte nun von der Unterstützung revolutionärer Gruppierungen in den Kolonien, welche die kapitalistischen Imperialmächte aushebeln sollten, zur Stärkung antifaschistischer Kräfte in Europa. Kenyatta galt ihnen derweil als »bürgerlicher nationaler Reformer«. In London blieb er zunächst trotzdem in regelmäßigem Kontakt mit diversen kommunistischen Organisationen und publizierte mehrere Beiträge in einschlägigen Zeitungen, darunter eine Reihe von Artikeln im Labour Monthly, bevor er sich in seiner politischen Arbeit immer stärker von den Kommunisten abwandte.
Seine kommunistische Vergangenheit und vor allem sein Aufenthalt in Moskau holten Kenyatta freilich immer wieder ein, etwa im Zusammenhang mit dem Mau-Mau-Aufstand in Kenia in den fünfziger Jahren, als dessen Drahtzieher ihn die Briten verdächtigten und für mehrere Jahre ins Gefängnis steckten. 1961 brandmarkte er den Vorwurf, ein Kommunist gewesen zu sein, als ein »notleidenden Informanten entlocktes Lügengebilde«. Er habe zu keiner Zeit engere Verbindungen zu Kommunisten gepflegt und die Sowjetunion lediglich, wie viele andere, zu Ausbildungszwecken besucht.3 Zwei Jahre später wurde er erster Präsident des unabhängigen Kenia und verfolgte, anders als viele seiner afrikanischen Amtskollegen, einen dezidiert prowestlichen Kurs.
Eine Kollektivbiografie der Komintern
Kenyatta gehört zu den zahlreichen Personen, deren Biografie in der einen oder anderen Weise mit der Komintern verknüpft war. Er zählte zu der vergleichsweise kleinen Schar von Afrikanern, die in verschiedenen Zusammenhängen Teil der Organisation waren oder sich zumindest in ihrem Dunstkreis bewegten. In ihrem Opus magnum, einer Globalgeschichte der Kommunistischen Internationale, erwähnt die Berner Historikerin Brigitte Studer Kenyatta allerdings mit keinem Wort.4 Ihr umfassendes Buch, die Kulmination ihrer Beschäftigung mit einem Themenfeld, zu dem sie in den letzten fünfundzwanzig Jahren bereits zahlreiche Studien vorgelegt hat,5 muss natürlich trotz des globalhistorischen Anspruchs Schwerpunkte setzen.
Dabei bleiben der »schwarze Atlantik« und die Bemühungen der Komintern, eine antikoloniale politische Plattform in der Karibik und im subsaharischen Afrika aufzubauen, weitgehend außen vor. Diese Netzwerke waren in den vergangenen Jahren bereits Gegenstand umfassender Forschungen, und es ist bedauerlich, dass Studer sie nicht stärker in ihre Darstellung integriert hat, auch weil sie auf diese Weise den Paternalismus und zuweilen Rassismus vieler Komintern-Funktionäre noch deutlicher hätte herausarbeiten können.6 Gleichwohl ist ihr ein beeindruckendes Porträt einer der schillerndsten Organisationen des 20. Jahrhunderts gelungen.
Die von Lenin im Frühjahr 1919 proklamierte Komintern war Ausdruck der Überzeugung, dass die Bolschewiki ihre Macht nur dann dauerhaft erhalten könnten, wenn zunächst Deutschland und in der Folge andere Länder kommunistisch würden. Antikoloniale Bewegungen sollten ebenfalls unterstützt werden, um die westlichen Kolonialmächte zu schwächen. Im Sommer 1920 kamen über zweihundert offizielle Delegierte in Moskau zusammen, um eine neue Internationale aufzubauen – politische Aktivisten und Aktivistinnen aus vielen Teilen der Welt, junge Revoluzzerinnen und altgediente Politiker, antikoloniale Kämpfer sowie Gewerkschafter aus imperialistischen Ländern, die alle ihre jeweiligen Vorstellungen über die Ausgestaltung einer radikalen Transformation der herrschenden Verhältnisse mitbrachten.
Kurz darauf, im September desselben Jahres, riefen die Bolschewiki in Baku zu einem Kongress der »Völker des Ostens« auf, um, so Studer, »den Ruf der Weltrevolution weit über die industrialisierten Länder, über Europa und Nordamerika hinaus erschallen zu lassen«. Die Komintern, entstanden als eine Art »revolutionärer Entrepreneur«, entwickelte sich in den folgenden gut zwei Dekaden zu einer bürokratischen Institution mit Zentrale in Moskau und einem vielgestaltigen Geflecht aus weltweiten Netzwerken, zahlreichen Nebenorganisationen und rund achtzig kommunistischen Parteien, das sich in unzähligen öffentlichen Aktivitäten, internationalen Kampagnen und geheimen Verbünden manifestierte, bevor es 1943 auf Befehl Stalins sang- und klanglos aufgelöst wurde.
»Das 20. Jahrhundert«, schreibt Studer, »kannte wohl keine zweite Organisation und soziale Bewegung, die zugleich in ihrer Rhetorik derart international, in ihren Praktiken derart transnational und in ihrer Zielsetzung derart global ausgerichtet war.« In den Mittelpunkt ihrer Darstellung stellt sie die Lebenswelten der handelnden Personen – in den vierundzwanzig Jahren der Existenz der Komintern gab es alles in allem immerhin rund 30 000 globale Berufsrevolutionäre – und fragt, was sie dazu veranlasst haben mag, »ein unsicheres, nomadisches Leben ohne jede bürgerliche Existenzsicherheit« zu führen.
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