Heft 911, April 2025

Halbschatten des Kolonialismus

von Andreas Eckert

Gute und nicht so gute Schüler

Ende September 1966 reiste Michel Foucault nach Tunesien, um eine Professur für Philosophie an der Universität Tunis anzutreten. Tunesien, »ein Land, das von der Geschichte gesegnet ist und, weil es Hannibal und den heiligen Augustus hervorgebracht hat, das ewige Leben verdient«, wie Foucault später sagen sollte, war zu diesem Zeitpunkt in Aufruhr.1 1956 als eine der ersten französischen Kolonien auf dem afrikanischen Kontinent unabhängig geworden, musste sich das Land mit den Geburtswehen nachkolonialer Gesellschaften auseinandersetzen: mit politischem Fraktionismus, Experimenten in Social Engineering und zahlreichen politischen Ideologien von Sozialismus über Panafrikanismus zu Panarabismus. Und natürlich mit seinem Verhältnis zur weiterhin sehr präsenten ehemaligen Kolonialmacht Frankreich.2 Währenddessen schrieb Foucault in der pittoresken Künstlerkolonie Sidi Bou Saïd an seiner Archäologie des Wissens, umgab sich weitgehend mit französischen Kollegen und Bekannten und engagierte sich gelegentlich für von der Staatsmacht verfolgte Studierende. Von Begegnungen mit Sexpartnern abgesehen – über die Bewertung dieser Zusammenkünfte kommt es bis heute freilich immer wieder zu hitzigen Debatten –, scheint er kaum Kontakte zu Einheimischen unterhalten zu haben. Eine fundierte Auseinandersetzung mit Fragen des Kolonialismus und den Problemen nachkolonialer Ordnungen lässt sich bei ihm nicht ausmachen. Im Gegenteil: Zuweilen kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, Foucault habe in Tunesien eher das Leben eines Kolonialherren geführt. Erst im Nachhinein und als Reaktion auf kritische Nachfragen hat er die tunesische Studentenrevolte vom März 1968 als für ihn markante politische Erfahrung deklariert.

Auf den ersten Blick ist es daher umso erstaunlicher, dass Foucault ein, zwei Jahrzehnte später zu einer wichtigen Referenz für die Entwicklung postkolonialer Ansätze, aber auch für viele Studien werden sollte, die sich mit der kolonialen Ordnung in Afrika oder Asien auseinandersetzen. Seine Rezeption bei zentralen Autoren des Postkolonialismus war freilich ambivalent, zuweilen gar feindselig. Dabei ist zu unterscheiden: Einerseits schien vieles von Foucault auf die koloniale Arena übertragbar zu sein – seine Betonung von Formen der Autorität und des Ausschlusses zum Beispiel; seine Analyse der Operationen der Machttechnologien, der Überwachungsapparate oder der Gouvernementalität. Andererseits gibt es in Foucaults Werk so gut wie keine expliziten Diskussionen über Kolonialismus und »Rasse«. Er blieb seltsam zurückhaltend in Bezug auf die Art und Weise, wie Macht in diesen Arenen funktionierte. Zugespitzt formuliert: Sein Werk kommt sehr eurozentrisch daher.3

In der vielbeachteten und gelobten Studie von Onur Erdur über die kolonialen Wurzeln der französischen Theorie gibt Foucault unter den acht verhandelten Denkern, die die »Schule des Südens« besucht haben, die schlechteste Figur ab.4 Der Berliner Historiker und Kulturwissenschaftler greift viele der im Raum stehenden Vorbehalte gegenüber Foucaults Desinteresse an kolonialen Fragen, aber auch seinem »orientalistischen« Gebaren auf. Zu den schärfsten Kritikern gehörte, wie Erdur darlegt, ausgerechnet Edward Said, der mit seinem 1978 veröffentlichten Buch Orientalism entscheidend dazu beigetragen hatte, die Imperialismusdebatte von Marx auf Foucault umzuorientieren, und dabei zu zeigen versuchte, dass der Orientalismus – die Konstruktion des »Orients« und die damit verknüpften Repräsentationstechniken sowie die Instrumentalisierung dieses akademisch informierten »Wissens« zur kolonialen Herrschaftsstabilisierung – Teil eines, im Foucault’schen Sinne, »Macht-Wissen-Komplexes« waren.5

Man merkt Erdur deutlich an, dass ihm Foucault, der ego- und eurozentrische Kritiker der Macht, der sich »verglichen mit anderen Philosophen und ihrem Umgang mit der eigenen postkolonialen Situation […] nicht gerade mit Ruhm« bekleckert habe, nicht übermäßig sympathisch ist. Gleichwohl zeichnen sich Erdurs Darlegungen dadurch aus, dass er nicht pauschal verdammt, sondern bei Foucault, ebenso wie bei den anderen Protagonisten seines Buches, sorgfältig die Grenzen zwischen antikolonialem Engagement und kolonialer Verwicklung auslotet. Dass Foucault zu den weltweiten Debatten über das Erbe des Kolonialismus kaum etwas beizutragen habe, könne ihm nur vorwerfen, »wer allzu hohe Erwartungen an die prophetischen Fähigkeiten und die moralische Integrität von Intellektuellen hat und wer Philosophie nur noch als eine besonders anspruchsvolle Form moralischen Engagements wahrnimmt«.

Bei allen anderen Akteuren – Pierre Bourdieu, Jean-François Lyotard, Roland Barthes, Jacques Derrida, Hélène Cixous, Etienne Balibar sowie Jacques Rancière – sind die Bezüge zwischen kolonialer Erfahrung und Werk offenkundiger als bei Foucault. Die zentrale These, die Erdur in seinem elegant geschriebenen Buch formuliert, lautet, dass »zentrale Schlagwörter und Werke der französischen Theorie ohne die kolonialen Grenz- und Differenzerfahrungen ihrer Protagonisten nicht zu verstehen sind«. Diese Theorie sei nicht in einem abstrakten und luftleeren Raum entstanden, sondern immer in lokalen, historischen und individuell erfassten sozialen Kontexten.

Einen wichtigen Kontext für die in der Studie versammelten Intellektuellen bildete die Erfahrung der Dekolonisierung. Eine Reihe ihrer theoretischen Innovationen hingen daher, so Erdur, mit dem Versuch zusammen, den mit dem formalen Ende der Kolonialherrschaft verbundenen Zusammenbruch einer bestimmten politischen und kulturellen Ordnung in der französischen Gesellschaft zu reflektieren und zu begreifen. Zugleich vermeidet der Autor eine homogenisierende Erzählung und verdeutlicht mithilfe markanter Porträts die beträchtlichen Unterschiede zwischen den Settings, Theorien, Orten und Zeiten, in denen die Protagonisten jeweils agierten.

Bei aller Brillanz der Ausführungen ist Erdurs Grundthese nicht neu. Es gibt sie, seit es postkoloniale Ansätze gibt, und für einige der im Buch betrachteten Denker ist der Zusammenhang zwischen Kolonie und Œuvre bereits intensiv analysiert. Dies gilt insbesondere für Pierre Bourdieu, der nach seinem 1957 beendeten Militärdienst in Algerien vor Ort blieb, um auf der Grundlage zum Teil riskanter Feldforschungen unter den Bedingungen des Dekolonisationskrieges die Transformationen städtischer und ländlicher Gesellschaften zu untersuchen, wobei er sich vor allem für die Berbergesellschaften interessierte. Mit Unterstützung einer kleinen Gruppe von Mitarbeitern führte er zwei große Erhebungen durch: Eine widmete sich dem Arbeitsbegriff im städtischen Umfeld, die andere beschäftigte sich mit den »entwurzelten« Bauern, die er in von den Franzosen eingerichteten Umsiedlungslagern beobachtete.

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