Und noch einmal: Frantz Fanon
von Andreas EckertEin Körper in Bewegung
Im Sommer 1959 sandte Frantz Fanon, damals unter anderem für die Pressearbeit der algerischen Unabhängigkeitsbewegung Front de Libération Nationale (FLN) in ihrem Exil in Tunis verantwortlich, die Skizze seines geplanten Buchs »Im Jahr Fünf der algerischen Revolution« an seinen französischen Verleger François Maspero. Der reagierte verhalten: »Sind Sie sicher«, schrieb er Fanon, »dass in sechs Monaten noch alles gültig ist? Ist der Text noch zeitgemäß? Ich kann Ihnen meine persönlichen Zweifel daran nicht verhehlen.«
Zu diesem Zeitpunkt konnte Maspero nicht wissen, dass Fanon zwei Jahre darauf sterben und so die Gelegenheit, das formale Ende der französischen Herrschaft in Algerien zu erleben, um drei Monate verpassen würde. Und er konnte nicht das immense Interesse erahnen, das Fanons Werk noch mehr als sechs Jahrzehnte später in vielen Teilen der Welt hervorrufen würde, nicht zuletzt in den Vereinigten Staaten, einem Land, das Fanon einmal als ein Monster beschrieben hatte, »in dem die Defekte, die Krankheit und die Unmenschlichkeit Europas ein erschreckendes Ausmaß angenommen haben«.
Es war bittere Ironie, dass Fanon im Dezember 1961 ausgerechnet in einem Krankenhaus in der Nähe von Washington /D. C. seiner Leukämie erlag. Dass der amerikanische Geheimdienst CIA eine entscheidende Rolle dabei spielte, eine Krebsbehandlung für Fanon zu arrangieren, erklärt sich aus der Logik des Kalten Kriegs, der sich Fanon eigentlich immer dezidiert zu verweigern versucht hatte. Die USA wollten unbedingt verhindern, dass ein unabhängiges Algerien in das Lager der Sowjetunion überlief, und Fanon galt als sehr moskaukritisch. Er machte zudem kein Hehl aus seiner Abneigung gegenüber der Kommunistischen Partei Frankreichs. Fanon durchschaute das strategische Interesse des CIA durchaus, aber er war ein todkranker Mann, der schlicht die bestmögliche medizinische Versorgung wollte, die zu bekommen war. Ein Exemplar seines rasch zum Klassiker werdenden Buches Die Verdammten dieser Erde konnte er noch im Krankenbett in den Händen halten. Er wusste bereits um seine Krankheit und seinen nahenden Tod, als er das Manuskript seiner Sekretärin Marie-Jeanne Manuellan diktierte, die er sein »Tonbandgerät« nannte. Sie beschreibt in ihren Memoiren, wie Fanon, bevor ihn der Krebs niederstreckte, sein Buch gleichsam »schritt und sprach, aus dem Rhythmus seines sich bewegenden Körpers«.
Ein Körper in Bewegung: Sein kurzes Leben führte ihn über drei Kontinente und mehrere, sich oft überschneidende Betätigungen: Soldat und Arzt, Dichter und Propagandist, Psychiater und Revolutionär. Der 1925 in der damaligen französischen Kolonie Martinique geborene Fanon war bereits vor seinem zwanzigsten Lebensjahr ein hochdekorierter Veteran der Freien Französischen Armee, veröffentlichte mit sechsundzwanzig Jahren sein erstes Buch und leitete eine psychiatrische Klinik, bevor er dreißig wurde. Angesichts seines zwar kurzen, aber rasanten und komplexen Lebens verwundert es nicht, dass Fanon zu einem unwiderstehlichen Sujet für Biografen wurde. Sie haben sich allerdings häufig auf bestimmte Aspekte seines Lebens und Werks konzentriert und diese vertieft.
Alice Cherki, die in Algier aufwuchs und aktiv gegen die französische Kolonialherrschaft kämpfte, kannte Fanon persönlich durch die gemeinsame Arbeit in der von ihm geleiteten psychiatrischen Klinik in Blida. Sie situiert Fanons Engagement im algerischen Befreiungskampf und porträtiert ihn als scharfsinnigen Analytiker des subtil fortwirkenden Traumas des Kolonialismus. David Maceys vorzügliche Biografie hebt die Bedeutung von Fanons Erfahrungen in Martinique hervor und konzipiert sein Buch als Korrektur des »angloamerikanisierten Fanon«, der seit den achtziger Jahren die akademische Forschung prägte, die ihn nicht zuletzt als wichtigen Theoretiker feierte. Jean Khalfa und Robert J. C. Young veröffentlichten eine Sammlung seiner bisher unveröffentlichten Schriften, darunter zwei Theaterstücke, die Fanon in seinen frühen Zwanzigern geschrieben hatte, sowie eine Fülle von klinischen Schriften.
Und schließlich ist Fanon zuletzt auch der Protagonist einer Graphic Novel, deren Rahmen die in weiten Teilen imaginierte Reinszenierung einer leidenschaftlichen Debatte bildet, die er im August 1961 in einer Hotelbar in Rom über drei Tage mit Jean-Paul Sartre (und teilweise mit Simone de Beauvoir und Claude Lanzmann) geführt hat. Diesem Band gelingt es auf überzeugende Weise, das langsame politische Erwachen Fanons mit spezifischen historischen Erfahrungen zu verbinden: der europäischen Siedlerherrschaft, der auf Rassismus beruhenden Stratifikation der Gesellschaft, wie sie Fanon etwa als Soldat der französischen Kolonialarmee erfahren hatte, seiner Hinwendung vom Studium der Philosophie zu seinem vertieften Interesse an psychiatrischen Erkrankungen, seinem Leben als Student in Lyon, schließlich seiner Entscheidung, als Psychiater in der Nähe von Algier zu praktizieren, wo er glaubte, seine Tätigkeit könnte von größerem Nutzen sein als in Frankreich oder der Karibik.
Der ganze Fanon?
Adam Shatz, der nordamerikanische Herausgeber der London Review of Books, bearbeitet mit seiner Biografie also ein bereits gut beackertes Feld. Doch angesichts des anhaltenden Einflusses Fanons, vom Seminarraum über die sozialen Medien bis hin zu den Straßen, und der häufig allzu oberflächlichen Lektüre seiner Schriften spricht wenig gegen einen weiteren Versuch, die Geschichte dieses außergewöhnlichen Lebens zu erzählen und zu kontextualisieren. Eine wichtige Quelle für Shatz’ Studie bildeten Gespräche mit Vertrauten Fanons, darunter Marie-Jeanne Manuellan, die sich einmal beschwerte, dass Fanon zu oft »in kleine Stücke zerschnitten« würde und die Versuche, einen Teil der Person und seines Werks zu isolieren, »das unauflösliche Ganze« nicht zu erfassen erlaubten.
Ob Shatz das unauflösliche Ganze Fanons adäquat einzufangen vermag, sei einmal dahingestellt. In jedem Fall gelingt ihm eine substantielle und differenzierte Darstellung der Kontexte, in denen Fanon in den verschiedenen Phasen seines Lebens agierte. Die Person hingegen bleibt nach der Lektüre weiter schwer fassbar. So lässt sich The Rebel’s Clinic am besten als intellektuelle Biografie Fanons und seines Umfelds bezeichnen, die wichtige Fragen sowohl zu seinen Aktivitäten im Prozess der Dekolonisation als auch zu Fanon als Theoretiker aufwirft.
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