Heft 845, Oktober 2019

Der tätowierte Mensch

von Valentin Groebner

Die Hitzesommer der letzten zweieinhalb Jahrzehnte haben unübersehbar gemacht, dass die europäischen Durchschnittskörper sich in Zeichenträger verwandelt haben, in einen bunten halböffentlichen Skizzenblock aus menschlicher Haut. Im Sommer krabbeln all die Rosen, Augen, Reptilien und Flügel wieder heraus aus den Ausschnitten und Ärmeln, in denen sie den langen Kunstlichtwinter verbracht haben. Sie sind Post von den Besitzerinnen und Besitzer dieser Körper, sie haben etwas zu sagen. Ich bin eine ganz besonders wichtige Nachricht, flüstert jede von ihnen, bitte schau mich an. Also schaue ich.

Kreuze. Engel. Durchstochene Herzen. Blumenbekränzte Herzen. Herzen mit Stacheldraht. Sterne in allen unterschiedlichen Formen und Farben. Viele stachelige Gewächse mit Dornen, eine ganze Menge Totenköpfe. Tragen die Ängstlichen Totenköpfe, aus Abwehr? Die gezackten dunklen Bänder an den Oberarmen sind so häufig geworden, dass sie kaum mehr auffallen, ebenso die ausladenden Ornamente am unteren Ende des Rückens, die der Volksmund mit der schönen Wortfindung »Arschgeweih« bezeichnet hat. Seither sind sie nicht mehr so schick.

Dasselbe ist dem auf der Schulter getragenen springenden Delfin passiert. Neue Motive und Stile der Tätowierungen kommen in Wellen, verbreiten sich sehr rasch – und bleiben dann, sozusagen mit unsichtbarer Jahreszahl. »Ein Tattoo«, verkündet der Titel einer 2003 erschienenen Geschichte des Hautstichs in Deutschland, »ist für immer.« Es ist unklar, ob das triumphierend oder resignierend gemeint ist.

Die Bilder der Anderen

An jedem Nachmittag im Freibad oder am Strand ziehen deshalb ganze Kataloge der hipness aus den letzten drei Jahrzehnten an mir vorbei. Japanische oder chinesische Drachen, Spielkartenmotive, Namen und Gesichter von Kindern und Geliebten, Schleifchen, Fantasy-Feen mit tiefem Ausschnitt. Auf weiblichen Nacken und Schultern flattern Schmetterlinge. Auf dem Oberarm der freundlichen Angestellten in meinem Rückenstudio wachsen zwischen Schlangen und Blumen Nadelbäume und ein Indianer mit Federschmuck und markanter Hakennase. Auf einen männlichen Oberkörper von Mitte vierzig schmiegt sich seitlich unter dem Arm auf die Brust hinauf ein gutaussehender schwarzer Pottwal. Die allermeisten Tätowierungen sind dabei keine Einzelbilder mehr, sondern Serien und, noch einmal gesteigert, eine Art Bilderstrumpf, der Arme, Schultern und Beine überzieht. Wie funktioniert das? Warum haben sich die unter die Haut gestochenen Embleme innerhalb vergleichsweise kurzer Zeit – einer Generation – so stark vermehrt?

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