Der tätowierte Mensch
von Valentin GroebnerDie Hitzesommer der letzten zweieinhalb Jahrzehnte haben unübersehbar gemacht, dass die europäischen Durchschnittskörper sich in Zeichenträger verwandelt haben, in einen bunten halböffentlichen Skizzenblock aus menschlicher Haut. Im Sommer krabbeln all die Rosen, Augen, Reptilien und Flügel wieder heraus aus den Ausschnitten und Ärmeln, in denen sie den langen Kunstlichtwinter verbracht haben. Sie sind Post von den Besitzerinnen und Besitzer dieser Körper, sie haben etwas zu sagen. Ich bin eine ganz besonders wichtige Nachricht, flüstert jede von ihnen, bitte schau mich an. Also schaue ich.
Kreuze. Engel. Durchstochene Herzen. Blumenbekränzte Herzen. Herzen mit Stacheldraht. Sterne in allen unterschiedlichen Formen und Farben. Viele stachelige Gewächse mit Dornen, eine ganze Menge Totenköpfe. Tragen die Ängstlichen Totenköpfe, aus Abwehr? Die gezackten dunklen Bänder an den Oberarmen sind so häufig geworden, dass sie kaum mehr auffallen, ebenso die ausladenden Ornamente am unteren Ende des Rückens, die der Volksmund mit der schönen Wortfindung »Arschgeweih« bezeichnet hat. Seither sind sie nicht mehr so schick.
Dasselbe ist dem auf der Schulter getragenen springenden Delfin passiert. Neue Motive und Stile der Tätowierungen kommen in Wellen, verbreiten sich sehr rasch – und bleiben dann, sozusagen mit unsichtbarer Jahreszahl. »Ein Tattoo«, verkündet der Titel einer 2003 erschienenen Geschichte des Hautstichs in Deutschland, »ist für immer.« Es ist unklar, ob das triumphierend oder resignierend gemeint ist.
Die Bilder der Anderen
An jedem Nachmittag im Freibad oder am Strand ziehen deshalb ganze Kataloge der hipness aus den letzten drei Jahrzehnten an mir vorbei. Japanische oder chinesische Drachen, Spielkartenmotive, Namen und Gesichter von Kindern und Geliebten, Schleifchen, Fantasy-Feen mit tiefem Ausschnitt. Auf weiblichen Nacken und Schultern flattern Schmetterlinge. Auf dem Oberarm der freundlichen Angestellten in meinem Rückenstudio wachsen zwischen Schlangen und Blumen Nadelbäume und ein Indianer mit Federschmuck und markanter Hakennase. Auf einen männlichen Oberkörper von Mitte vierzig schmiegt sich seitlich unter dem Arm auf die Brust hinauf ein gutaussehender schwarzer Pottwal. Die allermeisten Tätowierungen sind dabei keine Einzelbilder mehr, sondern Serien und, noch einmal gesteigert, eine Art Bilderstrumpf, der Arme, Schultern und Beine überzieht. Wie funktioniert das? Warum haben sich die unter die Haut gestochenen Embleme innerhalb vergleichsweise kurzer Zeit – einer Generation – so stark vermehrt?
Laß dich tätowieren hieß die Single, die Georg Danzer 1974 herausbrachte. Darauf singt ein sehr knabenhafter Wiener Liedermacher mit schön geföhntem langem Haar vom wilden Leben und vom Abzeichen, an dem man es erkennen konnte. Zeichen auf der Haut hieß die dazugehörige kulturwissenschaftliche Studie von Stephan Oettermann, fünf Jahre später im linksalternativen Syndikat-Verlag erschienen. Tattoos waren Gegenkultur und Untergrund, gefährlich-verruchte Abzeichen der ganz Anderen, und Oettermann breitete mit großer Eindringlichkeit die Geschichten von den tätowierten Eingeborenen aus der Südsee aus, die man Ende des 18. Jahrhunderts als Sensationen nach Europa brachte – und mit ihnen das neue Wort »tatau«. Er schilderte die Verbreitung des Hautstichs im Europa des 19. Jahrhunderts und die wilden Fantasien, in denen Cesare Lombroso in seinen Studien tätowierte Delinquenten als Abkömmlinge primitiver verbrecherischer Rassen porträtierte; tätowierte Schausteller wurden eingehenden wissenschaftlichen Untersuchungen durch berühmte Medizinprofessoren und die Berliner Anthropologische Gesellschaft unterzogen.
Oettermanns Buch endet mit den Tätowierungen in den Konzentrationslagern der Nazis, den Lagerhäftlingen in der UDSSR und der düsteren Beschwörung drohender totaler Erfassung aller Andersartigkeit im Namen der Terrorismusbekämpfung durch Fingerabdrücke in westdeutschen Polizeicomputern. Chiffre für diese düstere Vision wurde 1987 der neue maschinenlesbare Personalausweis der Bundesrepublik, ausgestellt auf eine fiktive »Erika Mustermann«. Dreißig Jahre später ist man in jedem Schwimmbad und in jeder Sauna umgeben von den vermeintlichen Zeichen der Anderen, der Wilden und der Rebellion. Sie haben Formen und Ausmaße angenommen, die sich weder Georg Danzer noch die radikalsten Kulturtheoretiker der 1970er Jahre vorgestellt haben. Die Mustermänner, im ganz wörtlichen Sinn, sind überall. Das ist lustig, aber eigentlich ziemlich erklärungsbedürftig.
Verwandlung durch Zeichen
Geschichte hilft hier nicht so richtig weiter. Als Adolf Loos in Ornament und Verbrechen 1908 gegen die primitive Lust am Dekorieren polemisierte (»der moderne mensch, der sich tätowiert, ist ein verbrecher oder ein degenerierter«), waren nicht nur Gefängnisinsassen, Matrosen und Unterhaltungskünstler tätowiert, sondern auch die Mehrzahl des britischen Königshauses, und die k.u.k. Kronprinzen Rudolf und Franz Ferdinand ebenfalls. Erhard Schüttpelz hat 2006 in einem lesenswerten Aufsatz gezeigt, dass die Geschichte der Tätowierung seit dem 18. Jahrhundert eben nicht nur die ihrer Stigmatisierung ist.1 Die noble Londoner Modezeitschrift The Tatler and Bystander publizierte 1903 unter der Überschrift »The Gentle Art of Tattooing« Bilder von Tigern, Drachen und Fischen auf Unterarmen, die in heutigen Tattoo-Studios nicht auffallen würden. Die Tätowierungsästhetik der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, notiert Schüttpelz nüchtern, war im Wesentlichen ein Mittelschichtphänomen, das pikareske ältere Erzählmotive zur eigenen Selbstdarstellung umdeutete. Die Universität Kopenhagen hat 2005 sogar einen Wettbewerb für ein geeignetes akademisches Logo ausgeschrieben, das sich begeisterte Nachwuchswissenschaftler tätowieren lassen können. Also nicht Revolte, sondern Zugehörigkeit?
Früher dachte ich, die Sache mit den Tattoos sei ganz einfach. Der eigene Leib soll durch zusätzliche Körperteile vervollständigt werden, und die erscheinen dann als Blume oder Flügel, Stachel, Panzer oder Halsband, je nach Gusto und libidinöser Verfassung. Das, von dem man empfindet, dass es einem selbst fehle, werde in Farbe und zweidimensional hinzugefügt – dafür ist das Bildermachen in der Jungsteinzeit schließlich erfunden worden. Dann schaute ich genauer hin und war mir nicht mehr so sicher. Es geht nicht um Mangel. Die Logos jener kostspieligen Luxusmarken, die viele Leute gerne als Chiffre für Erfolg und Wohlstand auf ihren Kleidern, Handtaschen und Sonnenbrillen tragen, erscheinen praktisch nie auf ihrer Haut. Den eigenen Körper als Schreibmaterial zu gebrauchen soll Antikäuflichkeit, Trotz, Selbstbestimmung signalisieren – oder soll man »Werte« sagen?
In den sommerlichen Parks, Bädern und Fußgängerzonen wandern außerdem nicht nur Bilder an mir vorbei, sondern ziemlich viele Schriftzeichen. Exotische auf Chinesisch und Arabisch; aber auch englische, lateinische und deutsche Texte – Namen, Zaubersprüche, Beschwörungsformeln. Vielfarbige Anagramme, geflügelte Pferde, der Kopf eines Pumas, der am Hals in einer Art Nest aus Flügeln und Blüten endet. Und sehr viele Gesichter, fast immer weiblich, egal ob sie auf Frauen- oder Männerkörpern ihren Wohnsitz genommen haben. Die Tätowierungen waren offenbar der Ausdruck eines Wunschs, etwas vorher unsichtbares Inneres – ein Bild aus der eigenen Vorstellung – auf der Haut erscheinen zu lassen; sich also in den Bildschirm oder die Leinwand der eigenen Fantasien zu verwandeln.
Dann sah ich einen Italiener am Strand einer griechischen Insel, vielleicht neunzehn, er war mit seinen kultivierten Eltern und deren Freunden unterwegs. Auf dem Ansatz seines linken Oberschenkels hatte er ein großes Auge mit dicken Wimpern tätowiert, 15 Zentimeter lang: Er schob seine Badehose hinauf und rieb es sorgfältig mit Sonnencreme ein. Über seinen Knien war, in verschnörkelten Zierbuchstaben, links »Kinda« zu lesen, rechts »Giant«. Tattoos, dachte ich, wollen demonstrative Rätsel sein. Schau, das ist mein Allerwichtigstes, und du kannst es ohne meine Hilfe nicht entziffern.
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