Selbstviktimisierung
von Valentin GroebnerSommer 1992. Ich war gerade in die Schweiz gezogen, und mein ehemaliger Mitbewohner aus der Studienzeit war mich besuchen gekommen für eine Bergtour ins Tessin. Weil es unter der Woche war, hatten wir abends die Selbstversorgerhütte für uns alleine, auf 2000 Metern Höhe mit unglaublichem Blick über das Verzascatal. Es gab einen Herd mit Feuerholz und mehrere Flaschen mit lokalem Wein, für den man, wie fürs Übernachten, Geld in eine Kasse warf, auf Vertrauensbasis. Nach zwei Tellern Spaghetti und der angebrochenen Flasche dachte ich mit sonnenverbrannter Nase am knackenden Ofen, dass es besser doch gar nicht sein könne auf dieser Welt: selige, etwas beschwipste alpine Idylle.
Meinem Begleiter ging es anders. Er fing an zu erzählen, was alles anders geworden sei, seitdem er sein Studium beendet habe und den Job bei der Landeskirche angetreten. Je länger er erzählte, desto düsterer wurde er, trotz der schönen Aussicht vor unserem Fenster. Die Wiedervereinigung bedeute Helmut Kohl und die CDU für immer, davon war er überzeugt, und während die Flasche zur Neige ging, brach es immer heftiger aus ihm heraus: Die Ostler, sagte er, hätten all die hoffnungsvollen Ansätze für gesellschaftliche Veränderung unwiderruflich zerstört. Seine Generation sei politisch das Opfer der Wiedervereinigung.
Dreißig Jahre später ist das noch erklärungsbedürftiger, als es für mich damals schon war. Aus der Sicht derjenigen, die das Jahr 1989 als Erwachsene in der DDR miterlebt hatten, waren die Westler die Gewinner und sie die Verlierer der Revolution. Waren nicht binnen weniger Jahre die lokalen Industriebetriebe rigoros zerschlagen, verkauft und abgewickelt worden, Hunderttausende Arbeitsplätze verloren gegangen, Millionen fleißiger Arbeitnehmer und vorher hochgeschätzter Spezialisten dequalifiziert worden und zu Bittstellern und Sozialhilfeempfängern gemacht? Kohls Wort von den »blühenden Landschaften« wurde von den Eltern meiner Freundin im Erzgebirge mit großer Bitterkeit gebraucht, um auf die miserablen Lebensbedingungen und die Abwanderung aus den neuen Bundesländern hinzuweisen, auf die eigene Demütigung. »Vom Ossi lernen heißt überleben lernen« stand auf dem T-Shirt eines kurzgeschorenen Mannes auf der Mecklenburger Ostseeinsel, wo ich 2012 Urlaub machte. Triumphierend war das nicht gemeint, von seinem ganzen Auftreten her, Militärhosen, Glatze, schwere Stiefel. Geschrieben war es in Fraktur. Worauf genau war er stolz?
Wir sind die Brüder der romantischen Verlierer hatte die linke Deutschrock-Gruppe Schroeder Roadshow 1979 in der Bundesrepublik gesungen, und auch die hatten es nicht ironisch gemeint. »Auf dieser kleinkarierten Welt || wo euch weiter nichts zusammenhält, || als die Macht und die Moral vom großen Geld.« Beim zweiten Refrain sind sie dann »die Brüder der Rebellen und Piraten«, und »selbst in der allergrößten Not || spucken wir || auf euer Gnadenbrot || und gehen stolz und lachend in den Tod«.
Das Gefühl von lachendem Stolz hat sich im krachenden Gitarrengewitter auf einer Konzertbühne Anfang der achtziger Jahre sicher gut gemacht. Es über längere Zeit aufrechtzuerhalten ist aber nicht so einfach, gerade wenn der Tod (im revolutionären Kampf?) ausgeblieben ist und dafür etwas anderes unübersehbar geworden: die seither vergangene Zeit und ihre eher unbefriedigenden Ergebnisse in Bezug auf das eigene Leben.
Weintrinken nach einer wissenschaftlichen Tagung, 2002. Der ältere Kollege berichtete von den bitteren Demütigungen, die er als Mitglied einer trotzkistischen Kleinpartei von Angehörigen anderer kommunistischer Gruppierungen jahrelang habe erdulden müssen, die ganzen siebziger Jahre hindurch. »Wir waren die Prügelknaben.« Auf jeder Erste-Mai-Demo seien sie von den anderen (»KPD-ML, KPD-AO, KB, Spartakisten, Marxistische Gruppe, einfach alle«) mit Sprechchören – »Eispickel! Eispickel!« – empfangen worden. Wie er sein Engagement von damals mit seinen heutigen engagierten Warnungen vor der drohenden islamischen Machtübernahme in Europa verbinde? Er strahlte – die Frage gefiel ihm. Das gehöre für ihn zusammen, sagte er. »Wir haben uns nie für die Subjektivität interessiert, für die Kleinigkeiten und den Alltag, wie deine Generation. Uns ging es immer schon um die Analyse, und um den ganz großen Überblick.«
Aber was, wenn dieser große Überblick einem das Ausmaß des eigenen Scheiterns enthüllt? »Verbitterungsmilieus« hat 2015 der Soziologe Heinz Bude dieses Phänomen der kollektiven Kränkung genannt und als Nährboden für politische Hassfantasien beschrieben. Seit dem Beginn des 21. Jahrhunderts sind darüber viele Bücher geschrieben worden. Den Wählerinnen und Wählern von Marine Le Pen und Donald Trump wurde ebenso wie den Teilnehmern der gewalttätigen Proteste der Gilets jaunes in Frankreich 2018/19 bescheinigt, sie sähen sich als Opfer, als ungerecht behandelte Abgehängte. Dabei lassen die allermeisten Berichterstatter, Sozialwissenschaftler und Journalistinnen viel Sympathie und Einfühlungsvermögen für die ökonomische Misere und das zerstörte Selbstwertgefühl dieser Menschen erkennen. Ebenso deutlich machen sie aber auch, dass sie selbst dieser Gruppe keinesfalls angehören. Abgehängt sind immer die Gegenstände der gesellschaftlichen Analyse, aber nicht deren Autorin oder Autor.
Wie charakteristisch sind diese Erzählmuster für die letzten dreißig Jahre seit 1992? Die Selbstdarstellung als leidendes Opfer von Unrecht ist ein altehrwürdiges Stilmittel – so sehr, dass Olivier de la Marche, erfolgreicher Dichter und Chronist am Hof des Herzogs von Burgund am Ende des 15. Jahrhunderts es sogar zu seinem offiziellen Motto machte: »Tant a souffert la Marche«. Auch die Gelehrten machten davon ausgiebig Gebrauch. Eine Generation später schilderte Erasmus von Rotterdam 1524 in einem Brief mit testamentarischen Verfügungen sein ganzes Leben als eine Serie von Erniedrigungen und Demütigungen. Sein väterliches Erbe »wäre nicht ganz unbedeutend gewesen, wenn die Vormünder es gewissenhaft verwaltet hätten«. Er wird in ein Kloster gegeben, obwohl er bereits reif für die Universität gewesen wäre. Freunde verraten ihn, hochgestellte Gönner erweisen sich als unzuverlässig. »Trotz großer Empfindsamkeit bleibt er immer ehrlich und freimütig, obwohl er vielfältig enttäuscht wurde«, schreibt Erasmus von sich in der dritten Person. »Er war selbst nie zufrieden mit dem, was er schrieb. Seine Haltung zu Luther bringt ihm unerträgliche Anfeindungen; er wird von beiden Seiten zerrissen, obwohl er nur hilfreiche Ratschläge geben wollte.«
Spätestens seit Rousseau, hat ein amerikanischer Historiker etwas spöttisch angemerkt, sei Reden über sich selbst immer auch so etwas wie ein halböffentlicher Wettbewerb in Selbstviktimisierung. Ich habe Recht – ich kann nur Recht haben –, weil ich viel intensiver leide als du. Das muss vorgezeigt werden, unübersehbar demonstriert, und George Orwell hat das Prinzip in einer Rezension vom März 1940 an einem Extrembeispiel luzide dargestellt. Das Autorenporträt des Buchs zeige »ein trauriges, etwas hundeähnliches Gesicht – das Gesicht eines Mannes, der unter unerträglichen Ungerechtigkeiten leidet. Auf eine männlichere Art und Weise spiegelt es die unzähligen Bilder des gekreuzigten Jesus, und es gibt kaum einen Zweifel, dass Hitler sich auch so sieht […] Er ist der Märtyrer, das Opfer.« Der sozialistische Spanienkämpfer Orwell bemerkt selbstkritisch: »Es ist eine Tatsache, dass es etwas zutiefst Ansprechendes bei ihm gibt«, und gesteht: »Die Anziehungskraft einer solchen Pose ist natürlich enorm; die Hälfte aller Filme im Kino, die man sieht, drehen sich um dieses Motiv.«
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