Heft 907, Dezember 2024

Alpen autokinetisch

von Valentin Groebner

Freiwillig macht man das nicht. Mit dem Fahrrad ein, zwei, drei Dutzend Kilometer ununterbrochen bergauf, mit acht (okay), neun (zäh) oder zehn (bäh) Prozent Steigung, über enge Kurven tausend oder tausendfünfhundert Höhenmeter hinauf auf den Pass – wieso eigentlich?

Ich wollte entkommen. Es war April 2020, und ich wollte den Vorschriften entkommen und den ununterbrochenen Ermahnungen. Von allen Aktivitäten im Freien wurde abgeraten, alle sollten zuhause bleiben und äußerste Vorsicht üben. Die Grenzen waren geschlossen. Ich wollte den Ängsten meiner Freunde und Bekannten entkommen und den Aufforderungen zu Disziplin. Ich wollte nicht mehr zuhause sitzen am Bildschirm hinter versperrten Türen über menschenleeren Straßen, wenn draußen alles glitzerte im wärmsten und schönsten Frühling, an den ich mich erinnern konnte. Ich hatte die Berge vor der Haustür, die Passstraßen waren gesperrt, aber der Schnee darauf war weg, man konnte es auf den Bildern der Webcams sehen. Ich war noch nie tausend Höhenmeter hinauf über einen Pass mit dem Fahrrad gefahren, konnte ich das überhaupt?

1.

Ich konnte. Der erste Pass ging erstaunlich gut, auf 1540 Meter hinauf, oben war die Straße abgesperrt; ich hob das Fahrrad über die Schranke und rollte auf der anderen Seite zwischen glitzernden Schneefeldern in der Sonne tausend Höhenmeter hinunter, allein und ohne Verkehr, es war fantastisch schön. Mein nächster – eine Woche später, das Wetter war immer noch großartig, und ich durfte weiterhin nicht ins Büro – war 1611 Meter hoch und hatte stellenweise 12 Prozent Steigung; das war bitter, aber egal, als ich erst einmal oben war. Und dann war ich angefixt und wollte mehr.

Eine neue Droge ist für Männer im schwierigen Alter ab Ende fünfzig unwiderstehlich, und Alpenpässe mit dem Rennrad fahren ist eine. Während die Einschränkungen langsam aufgehoben wurden und der Verkehr auf den Pässen wieder zunahm, strampelte ich in den folgenden Monaten immer höher hinauf, auf 2000, 2400, 2600 Meter. Ich bekam Routine, aber mein Erstaunen, dass ich das überhaupt konnte, blieb. Nach einem solchen Tag in den Haarnadelkurven ziepten und puckerten meine Oberschenkel und die Unterarme (vom Bremsen bei der Abfahrt), aber ich hatte strahlend gute Laune.

Ich lernte die eigenartige Fauna an Besuchern kennen, die sich auf den Parkplätzen dort oben versammeln und die man sogar im Nebel – den gab es auch – gleich erkannte, an ihren Silhouetten. Dickgepolsterte Motorradfahrer: je schwerer die Maschine, desto runder ihr Fahrer. Grazile Rennradlerinnen und Radler, die Schmalrehe der Hochalpen, am liebsten in Schwarz oder Hellgrau unterwegs. Die E-Bike-Begeisterten dagegen tragen gerne farbenfrohe Daunenjacken und strampeln in Kleingruppen. In den Cabrios sitzt immer ein älterer Mann am Steuer, er trägt entweder einen hellen Strohhut oder eine Baseballkappe und die Dame neben ihm ein Kopftuch: Herrenreiter in Begleitung und im Retro-Look. Und alle machen Fotos von sich, wenn sie erst einmal dort oben angekommen sind. Über diese Wettbewerbe im Posieren vor Hochgebirgspanorama – oder im Nebel – hat der Südtiroler Fotograf Walter Niedermayr einen schönen Fotoband gemacht. Sein Titel sagt eigentlich alles: Treffpunkt Niemandsland.

Die Alpen, kurz, sind eine autokinetische Vergnügenslandschaft, ein Film im Kopf, mit viel Publikum. Und echter Action: Auch wenn manche Motorradfahrer einen eher eng überholten, am gefährlichsten fühlten sich die kleinen Gruppen von Sportwagen der gehobenen Preisklasse an, die sich in Privatrennen halsbrecherische Überholmanöver in den engen Kurven lieferten, wenn die Straßen voll waren. Und sie waren immer voll, wenn zu Beginn des Sommers die Pässe geöffnet wurden. Hier ging es um den Konsum der Vertikale zum Vergnügen: Die Alpenpässe waren ein einziges großes Schnaufen und Röhren; ein Beschleunigungsfestival. Was suchte ich dort oben eigentlich – und die anderen auch?

2.

Der pensionierte Zahnarzt, begeisterter Motorradfahrer: »Es ist ein körperlicher Genuss, das Schwerkraft-Fliehkraft-Karussell.« Deswegen habe er auch seinen Oldtimer-Jaguar verkauft. »Der fährt von allein, auf dem Töff aber muss ich immer wach sein, es kommt auf mich an, nur auf mich.« Jeder Pass sei anders, Spitzkehren seien die Herausforderung, das Stilfser Joch zum Beispiel sei sehr gefährlich und anforderungsreich: »In jeder Kurve siehst du da einen liegen.« In einer engen Kurve dürfe man nicht zögern, stocken oder sich verschalten, nie aufgeben, man müsse die Maschine durchziehen, das Momentum dürfe nie verloren gehen, »sonst kippst du um.« Ein Pass mit dem Motorrad, sagte er, »das ist Erklimmen von Höhen mit Beherrschung der Kurventechnik. Und das genießt man, das eigene Können, den Rhythmus, das Schwingen in die Kurve hinein und wieder heraus, da geht es um Balance und Takt, es ist ein Tanz, und dazu noch das Überwinden der Schwerkraft, das ist« – und er begann zu strahlen – »wahnsinnig schön.«

Und die anderen? Normale Autofahrer seien nur zum Überholen da, sagte er, uninteressant, zu langsam. »Weil wir geschwindigkeitsorientiert sind. Am schlimmsten sind die Cabriofahrer, in jeder Kurve zu langsam, komplett falsch unterwegs und wissen gar nicht, wie sie aus einer engen Stelle wieder herauskommen.« Und die Töffs? »Wenn du ein aggressiver Fahrer bist, dann kannst du den vor dir überholen, das geht nur in den Linkskurven, das ist so eine Art Jagdinstinkt, ich«, er lacht, »habe den recht deutlich. Und wenn mich dann ein anderer überholt, ärgere ich mich immer ein bisschen, wieso ist der schneller als ich, habe ich den nicht gesehen?«

Rennradfahrer? Mein Zahnarzt verzog das Gesicht. »Ganz gefährliche Gruppe, bergab sind die fast so schnell wie wir. Das wissen sie auch und hängen dir am Hinterrad und machen keinen Zentimeter Platz und bremsen dann immer im letzten Moment vor der Kurve. Die fühlen sich als Helden, die haben vom Aufstieg den ganzen Frust und die Säure in den Muskeln und müssen das dann bei der Abfahrt kompensieren, manche machen extrem waghalsige Manöver. Die tragen keine Schutzkleidung und nehmen unglaubliche Risiken auf sich mit ihren schmalen Reifen, den paar Millimetern Gummi, all das nur um sich zu beweisen, dass sie die Helden sind.«

Hatte ich so genau wissen wollen, dass ich ein Frustrierter auf dünnem Gummi war? Die verschiedenen Liebhaber der Berge mögen sich gegenseitig nicht besonders, und das ahnt man auch beim stummen langen Hinaufstrampeln ins Vergnügen. Oben angekommen reden die Angehörigen der verschiedenen Stämme auch nur mit ihresgleichen auf dem Parkplatz, die Motorräder, die Cabrios und die Fahrradhelden und -heldinnen ebenso. Alles einsame Einzelkämpfer am Ziel; nur eben in ziemlich großer Anzahl. An einem Sommersonntagnachmittag bei gutem Wetter wird es schnell ziemlich voll im Niemandsland.

3.

Die Alpen, hat der Ethnologe Bernhard Tschofen in einem Aufsatz über die sinnliche Wahrnehmung der Berge geschrieben, sind eigentlich gar kein Ort. Sondern ein Gefühl, und zwar ein technisch induziertes. Erfunden wurde es in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts als beschleunigtes Hinuntergleiten in Schwüngen und Kurven, als Genießen der Schwerkraft am losgelassenen eigenen Körper, zuerst auf Skiern. Diese neuen physischen Sinnesempfindungen – wörtlich: »sensation« – wurden zur Sensation unter den Angehörigen der Oberschichten, die den Sport für sich und ihre Selbstdarstellung entdeckten.

Seither sind die Alpen ein autokinetisches Körperdings. Je schneller man unterwegs war, desto stärker die Zentripetal- und Zentrifugalkräfte, die man zu meistern hatte, und desto stärker das Vergnügen am Rausch der Bewegung.1 Das Wunder des Schneeschuhs nannte der Alpinist und Fotograf Arnold Fanck 1920 deshalb seinen ersten Film, das damals übliche Wort für Skier, ein glitzerndes Spektakel aus Licht und rasanter Bewegung, durch die neue Technik der Zeitlupe noch ästhetisch gesteigert. Dass der neue Sport, wie Winterferien in den Bergen überhaupt, das Privileg einer schmalen wohlhabenden Oberschicht war, hat ihn nur noch anziehender gemacht.

Den Geschmack von Luxus hatte Skifahren mit dem zweiten Vehikel gemeinsam, das in denselben Jahrzehnten neue individuelle Alpenerlebnisse ermöglichte, dem Automobil. Den Fähigkeiten des Autos zur Steigerung der Sinne hatte Filippo Tommaso Marinetti schon in seinem Futuristischen Manifest von 1909 ekstatische Passagen gewidmet: »Wir gingen zu den drei schnaufenden Maschinen, um ihnen liebevoll ihre heißen Brüste zu streicheln.«2 Wenn diese Maschinen ihre Besitzer mit großer Geschwindigkeit hinauf in die Berge transportieren konnten und ihnen in engen Kurven dort neue Körpererfahrungen verschafften, dann umso besser.

Die Erschließung der Alpen für neue Formen des Tourismus jenseits der altmodisch (und unprofitabel) gewordenen Kurhotels wurde ab Mitte der 1920er Jahre dann zum expliziten Programm der faschistischen Regierung. Die architektonischen Visionen neuer, luxuriöser Hotels für Skifahrer und Autotouristen im Hochgebirge, die Giò Ponti Ende der zwanziger Jahre für Mussolini entwarf, brauchten neue Seilbahnen und Autostraßen. Für Pontis mondänes »Albergo Paradiso del Cevedale«, am damaligen Fuß des Zufallgletschers 1933 bis 1935 errichtet, wurde eine komplett neue Zufahrtsstraße ins hinterste Ende des Martelltals gebaut.3

Im Namen der Automobilisierung Italiens wurde auch der Straßenbau im Hochgebirge unter Mussolini energisch vorangetrieben. Die neuen Straßen wurden teilweise unter Geheimhaltung gebaut wie am Timmelsjoch, an der Grenze zu Österreich, an anderen Orten explizit zur Fremdenverkehrswerbung. In den neuentstandenen Illustrierten als Lifestyle-Medien erschienen ab den 1920er Jahren überall in Europa aufwändig produzierte Fotos vom Skisport als elegantem Oberschichtsvergnügen. Skifahren war modern, schnell, schick und exklusiv. So wenige Leute es tatsächlich ausüben konnten, umso tauglicher war es zur Werbung für alle möglichen Produkte, wie Andrew Denning in seiner Geschichte des Skifahrens formuliert hat: »von Automobilen von Mercedes-Benz und Hautcrème von Nivea bis zum italienischen Faschismus«.4

Geschichte ist das, was man nicht wieder loswird, auch wenn man es möchte. So gerne im alpinen Tourismus heute von »Traditionen« gesprochen wird und von den »guten alten Zeiten« der Grand Hotels vor dem Ersten Weltkrieg, so zurückhaltend wird über die konkreten Entstehungsbedingungen der Infrastruktur erzählt, die uns die bequeme Reise in die idyllische Alpenwelt überhaupt erst ermöglicht. Der Duce hatte auch die erste Autobahn der Welt eröffnet, im September 1924. Sie war privat, kostenpflichtig und führte von Mailand in die Berge.

Ich auf meinem Rennrad bin aber auch ein Nachfahre der Industrialisierung dieser Jahrzehnte zwischen 1888 und 1930. Die neuen Techniken der Massenproduktion von damals haben erschwingliche schnelle Fahrräder in der uns vertrauten Bauart überhaupt erst hervorgebracht. Die dazugehörigen Massenmedien – zuerst die Sportzeitungen, dann das Radio – machten Fahrradrennen als Breitensport populär und verschafften ihm ein Millionenpublikum. Die alpinen Passstraßen, auf denen diese Rennen stattfinden, wurden aber natürlich nicht für Fahrräder gebaut, sondern für Autos. Und für (und häufig auch von) Soldaten. Und für Skifahrer.

4.

Den Urknall dieser Konstellation kann man besuchen: Sestriere im italienischen Piemont liegt auf zweitausend Metern Höhe unweit der französischen Grenze. Von Turin sind es etwas über hundert Kilometer, und es war ganz schön viel Verkehr auf der Strada Provinciale 23, etwas mühsam mit dem Fahrrad. Aber historisch ist das schon der richtige Anfahrtsweg. Sestriere ist der erste Wintersportort der Alpen, der aus dem Nichts entstanden ist, explizit als Ski-Stadt für Automobilisten, geplant und finanziert vom Fiat-Konzernchef Giovanni Agnelli senior, von Mussolini mit großem Pomp eröffnet. In seinem Auftrag wurden zwischen 1930 und 1935 zwei futuristische Hoteltürme errichtet, umgeben von Sportanlagen und jenen neuen technischen Installationen, ohne die von nun an kein Alpenerlebnis mehr auskam: Seilbahnen.

Die waren allerdings nicht in Betrieb, als ich verschwitzt an einem heißen Junitag dort ankam. Der Schnee hatte sich in schattige, graufleckige Mulden weit oben zwischen den Gipfeln zurückgezogen. Die beiden Luxushotels in Mussolinis Türmen waren geschlossen; seit mehreren Jahren offenbar, der Putz bröckelte. Darum herum Apartmenthäuser aus den sechziger, siebziger und achtziger Jahren und große Parkplätze – leer. Über ihnen hingen verblichene Plakate, die eine Skifahrerin mit wehenden blonden Haaren und tiefem Dekolleté im Pistenschwung vor sonnigen Gipfeln zeigten, das offizielle Logo des Ortes, im Retro-Look. Es sieht sehr nach der schicken Werbung aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts aus, und will das auch.

Darunter dünne, braungebrannte ältere Herren auf Rennrädern, die von Turin heraufgestrampelt waren, so wie ich. Ob im Winter hier viel los sei, fragte ich. Jedes Jahr weniger, sagten die freundlichen Radler, »non c’è più neve, è finito«. Jeder Wintersportort, ging mir zwischen den riesigen leeren Parkplätzen und der Bar dello Sport – schöne Aluminiumfassade aus den 1960ern – auf, ist eine Zeitmaschine. Jeder Wintersportort ist eine Wiederholung des Versprechens von vor hundert Jahren auf die große Beschleunigung und Entgrenzung der Körper durch Bewegung ins Licht mit neuen Vehikeln und neuen Sensationen. Der weiße Rausch hieß eine der vielen Fortsetzungen von Arnold Fancks erstem Skifilm, der 1931 die Kinos füllte. Die Geschichte des Skisports, hat Andrew Denning geschrieben, ist seit der Eröffnung der ersten Skilifte 1934 in Davos und Sestriere die der Kompression von Raum und Zeit durch möglichst rasche Bewegung in die Vertikale. Seitdem haben es alle Alpentouristen eilig.

5.

Wer mit dem Fahrrad in den Alpen unterwegs ist, ist aber langsam; sehr langsam sogar, wenn es bergauf geht. Und es geht dauernd bergauf vom Piemont hinüber nach Savoyen. Von Bergeinsamkeit keine Spur: Pässe fahren an der italienisch-französischen Grenze ist ein hochverdichtetes Massenspektakel, zum Mont Cenis hinauf waren zusammen mit mir gewaltige Pulks von Motorradfahrern, Autos und Wohnmobilen unterwegs. Dabei, sagte mir ein anderer genervter Rennradfahrer, auch er Schweizer, sei das erst der Anfang der Saison. »Im August ist das hier die Hölle.«

Das richtige Festival der Kohlenwasserstoffe, lernte ich am nächsten Tag, findet aber auf dem Col de l’Isèran statt, einen Pass weiter. So heißt die höchste durchgehende Passstraße der Alpen, und dementsprechend wollen dort alle hin, die nicht nur oben sein wollen, sondern ganz oben auf 2770 Metern, dem höchsten Punkt, den man auf einer asphaltierten Straße überfahren kann. In den Serpentinen dort hinauf überholten mich knatternde Quad-Fahrer – »Töffs für Behinderte«, hatte mein sarkastischer Schweizer am Tag zuvor gesagt –, Ducati-Fahrer, Aprilia-Fahrer, BMW-Fahrer, alle in gruppetto. An mir vorbei röhrte eine schwermotorisierte Gruppe von Tricycles mit gehisster dänischer Nationalflagge. Dahinter die Mitglieder des Ferrari-Clubs Taunus, kenntlich an großen Aufklebern auf ihren Boliden, gefolgt von Cabrios mit Wiesbadener und Bad Homburger Kennzeichen, gefolgt von Motorradfahrern aus Belgien, Irland, Spanien und Luxemburg und wirklich jeder Menge Individualverkehr aus Italien, Baden-Württemberg und allen Schweizer Kantonen, Hauptsache Auspuff. So viel zur frischen Bergluft.

Aber da war er plötzlich, der weiße Rausch. Es war ein wolkenloser Sommertag, die grauweißen Dreitausender links und rechts hatten überhelle Lichtspitzen aufgesetzt; alles um mich fühlte sich an, als würde es in Form von Photonen direkt in mein Hirn eindringen und es mit einer strahlenden brodelnden Masse füllen, eine Art Lava aus Licht. Der Verkehr um mich war zeitweise ohrenbetäubend, der Schweiß floss nur so, die Oberschenkel taten mir scheußlich weh, es war gleichzeitig ekelhaft und unglaublich toll. Und dann war ich oben. Und ziemlich fertig.

Das ist es vermutlich, was all die gepanzerten Motorradfahrer und die alten Herren in den Ferraris und den Cabrios eben auch unbedingt haben wollen, dachte ich hinterher. Ein etwas irres, überhelles und sehr dreidimensionales Gefühl, das durch Schneefelder, Beschleunigung und Höhe noch stärker wird. Eine »sensation«, eigentlich nicht mitteilbar, eine Ausschüttung selbstgemachter Drogen, ein Kick aus Licht. Vor dem Schild auf der Passhöhe winkte mir ein Motorradfahrer – Astronautenlook, mit aufgesetztem Helm und Sonnenbrille – wortlos mit seinem Smartphone zu, in der internationalen Zeichensprache der Kommunikationsbehinderten: Ob ich ihn nicht davor fotografieren könne? Machte ich; er nahm dafür weder Helm noch Brille ab, offenbar war das nicht notwendig. Woher er komme, fragte ich ihn nachher. Auf Deutsch, Französisch, Englisch gab das nur Kopfschütteln, auf Italienisch kam dann die Antwort in einem weichen gutturalen Slang: Nabuhlé. Neapel, 1007 Kilometer entfernt.

Ich bin genauso verrückt wie der, dachte ich, ich will mir diese Hitze und diese Höhe manisch in den Körper einschreiben, mit einer gewissen selbstzerstörerischen Wut. Dann rauschte ich die tausend Höhenmeter hinunter nach Val d’Isère zwischen Berghängen, die wie eine einzige große Baustelle aussahen mit Rudeln von Baggern und überdimensionalen Masten und Stahlseilen; dazwischen großformatige Plakate für die weiße Kunstwelt des Schneevergnügens.

Sensorische Beschleunigung hinterlässt Spuren. Hinterher glühte und vibrierte ich den Rest des Tages wie ein hochgefahrener Akku, den Kopf voller zuckender Bilder wie in einem zu schnell abgespulten Film. Wo hatte dieses hochkant gekippte Autowrack gestanden, auf der Seite aufgerissen wie von einem bösen Tier, in einer Baugrube am Straßenrand? Wo schwebten plötzlich diese riesigen Stahlseile und Rollen von Skiliften direkt über der Straße wie überdimensioniertes Spielzeug, leicht verrostet, unernst und bedrohlich gleichzeitig? Wintersport ist Bergbau und hinterlässt ähnlich deformierte Landschaften, menschengemachte graubraune Wüsten unter dem blauen Junihimmel. Was man daraus haben wollte, ist mit riesigen Maschinen herausgekratzt worden und verkauft; jedenfalls ist es nicht mehr da.

6.

Skiorte, kann man im Piemont und in Savoyen lernen, sind im Sommer am eindrucksvollsten. Sie sind Institutionen in einem sehr modernen und ganz wörtlichen Sinn: Das Wort bedeutet eigentlich Einrichtung, Unterricht, Anweisung. Ihr nüchterner französischer Name stations d’hiver bringt das auf den Punkt: Es sind technisch und ökonomisch perfektionierte Hüllen für ganz wenige, genau bestimmte Tätigkeiten, und das Wichtigste ist, neben funktionierender Zentralheizung, die kleine Entfernung zu verschneiten Berghängen und Liften, um das Publikum so rasch wie möglich zur Wunderware der alpinen Beschleunigung zu bringen, in den Schnee.

Die Hüllen für den Konsum dieses Schnees nehmen durchaus spektakuläre Formen an: gigantische runde Türme in Sestriere; monumentale, kilometerlange Längsriegel in Flaine und Tignes; vielgeschossige Pyramiden in Aime-la-Plagne; riesige, schräg hochkant gestellte Würfel wie in Les Arcs 1600, Les Arcs 1800, Les Arcs 2000. Die Zahlen stehen für Höhenmeter: Je weiter oben, so die Botschaft, desto effizienter und intensiver werden sie sein, deine Erholung, deine Entspannung, dein Genuss. Für solche Einrichtungen hat Siegfried Kracauer vor hundert Jahren das schöne Wort »Vergnügungskasernen« erfunden.

Die Alpen, hatte ich zu Beginn den Ethnologen Bernhard Tschofen zitiert, seien kein Ort, sondern ein technisch erzeugtes Gefühl. Hinter Val d’Isère wurden sie endgültig zu dem, was in der Fremdenverkehrswerbung »Panorama« heißt: Kulisse für die Maschinen individueller Beschleunigung in einer technisch optimierten Intensivlichtlandschaft. Sie ist dominiert durch auf maximale Effizienz ausgelegte Korridore für den beschleunigten An- und Abtransport von Menschen und Dingen, die den Konsum des Alpinen erst ermöglichen: Zufahrtsstraßen und Seilbahnen, Stromleitungen und Wasserspeicher, Skipisten und Parkhäuser – Fließräume.5

Fahrradwege, weiß ich jetzt, gehören übrigens nicht dazu. Die französischen Skiorte sind die konsequente Weiterentwicklung von Giovanni Agnellis Autostadt Sestriere, und gebaut wurden sie in jenen Jahrzehnten in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, in denen Frankreich zur Automobilnation wurde. 1955 wurde in den Betrieben der Autoindustrie eine dritte Urlaubswoche durchgesetzt, 1962 eine vierte, die dann per Gesetz für ganz Frankreich verbindlich erklärt wurde. Jedes Jahr im August und vor Weihnachten schlossen die Fabriken, und ihre Belegschaft fuhr auf neugebauten Autobahnen in den Urlaub. Ferien, notierte Roland Barthes 1957, »sind eine neuere soziale Tatsache, deren mythologische Entwicklung interessant zu verfolgen wäre«.

Den dazugehörigen Mythos gibt es tatsächlich; wie jeder Mythos ist er nur noch als Vintage und teure Antiquität zu haben. Die Sportwagen der Marke Alpine, 1955 von einem ehemaligen französischen Rennfahrer gegründet, hießen so zur Erinnerung an seinen Sieg im »Critérium des Alpes« im Jahr zuvor. Vierzig Jahre später wurde ihre Produktion endgültig eingestellt.

Der Alpenbenutzer will aber nicht darauf verzichten, sich als hochbeschleunigter Fahrerheld zu sehen – besonders gerne im Film, dem alten Lieblingsmedium der Moderne. In den Streifen von Willy Bogner etwa, Skirennfahrer der 1960er Jahre, dann Kameramann für Olympia-Filme (Männer, Mädchen und Medaillen, 1968) und für die Ski-Szenen bei diversen James Bond-Filmen. Als Regisseur war er mit Feuer und Eis (1986), White Magic (1994) und Mountain Magic (1999) erfolgreich, eine Art Wiedergänger von Arnold Fanck, aber mit angeschlossener Modefirma im gehobenen Preissegment. Von Willy Bogner »& Friends« stammt der aufwändige Bildband Der ultimative Skiguide von 2020, mit Porträts von zwanzig Skiorten samt Angaben zum nächsten Flughafen und Tipps für die beste Abfahrt, die besten Hotels und die besten Bars. Val d’Isère, weiß der Autor, sei »wie gemacht für den Wintersport«. »Hier ist eben alles ein bisschen großzügiger und weitläufiger als anderswo.«

Im selben Jahr 2020, dem Jahr der Lockdowns und geschlossenen Grenzen, erschien auch der dicke Bildband des Automobilclubs Deutschland, Skiguide – die besten Wintersportgebiete in Europa. Sestriere wird darin besonders für seine Tiefschneehänge und das Heliskiing gelobt. Val d’Isère gehöre »zur Elite der klassischen Skiorte weltweit und biete insgesamt rund 300 Pistenkilometer mit perfekter Infrastruktur«, und das nahe Les 3 Vallées mit insgesamt 600 Pistenkilometern und 162 Liften sei »das größte zusammenhängende Skigebiet der Welt« und garantiere »Abwechslung und Skivergnügen pur«.

Klimawandel gibt es in beiden schmucken Bildbänden nicht; es wird keine einzige Schneekanone erwähnt. Davon stehen in den Alpen aber insgesamt etwa 80 000 Stück, so eine Schätzung vom letzten Jahr, und beschneien 100 000 Hektar Skipisten. Pro Hektar befahrbarer Schneedecke brauchen sie in der Saison je nach Modell und Außentemperatur zwischen einer und drei Millionen Liter Wasser und zwischen 6000 und 18 000 Kilowattstunden Strom. Ihr jährlicher Wasserverbrauch insgesamt entspricht dem Dreifachen der Großstadt München, ihr Strombedarf dem einer Stadt von einer halben Million Einwohner, also etwa Zürich. Diese Zahlen werden noch ein bisschen eindrucksvoller, wenn man sich daran erinnert, dass die Wintersaison Mitte Dezember beginnt und bis Mitte März geht, drei Monate pro Jahr.

Mehr technische Moderne geht eigentlich nicht. Nur darf die in den kommerziellen Bilderwelten der großen Beschleunigung der Körper in den Bergen nicht auftauchen. Schnee als alpines Tempo- und Idylleversprechen ist vom schlichten Niederschlag zum Statussymbol geworden. Die Wintersportkollektion im gehobenen Preissegment, die das Modehaus Armani im Herbst 2023 erstmals präsentierte, heißt deswegen schlicht »Neve«. Ich sah die Fotos der Modells in Pelzmützen und Skianzügen in Schwarz und Rosa in den Schaufenstern der teuren Münchner Maximilianstraße und dachte: Der letzte Schnee ist eben nicht für alle da. Späte 1950er, Cortina d’Ampezzo für immer.

Die Wirkung dieser alpinen Traumbilder haben die Autorinnen und Autoren einer neuen Studie zum Tourismus mit dem schönen Ausdruck »marketing myopia« charakterisiert. Bei ihnen geht es um die Dolomiten, ihre Einsichten gelten aber für alle Orte von Schladming bis Albertville: Das Allerechteste an den Alpen, schreiben sie, sei die Werbung, die für ihren Besuch gemacht werde. Mindestens ebenso sehr wie an die Besucher richte sie sich an die Anbieter der jeweiligen Dienstleistungen selbst. Mit ihren perfekten Bildern versichere sie allen Beteiligten, dass die Gegenwart die perfekte Fortsetzung bewährter Traditionen aus der Vergangenheit sei; und dass sich nichts ändere, weil sich auch nichts ändern müsse: weißer Rausch als weißes Rauschen in Endlosschleife.6

7.

Das Erste, was ich am nächsten Morgen hinter Val d’Isère am Straßenrand vor meiner Frühstückspension sah, war ein großes Werbeplakat für einen allradgetriebenen Geländewagen, Elektro, im verschneiten Alpenpanorama. Muskelkater hatte ich auch. Ich stieg mit etwas Mühe auf mein Rad und rollte hinunter talabwärts nach Bourg-Saint-Maurice, zum Treffpunkt mit den Freunden, die mich und mein Rennrad in ihren Kombi einladen würden und über weitere Autobahnen durch die Berge bequem zurückkutschieren nach Hause, und ich war froh darüber.

Was habe ich gelernt auf meinen Pässen? Dass in den Alpen als Revier der großen technischen Beschleunigung das eigentliche Vergnügen im Hindernis und in der Langsamkeit steckt, jedenfalls für mich. Und dass die Skiorte als hochgerüstete technische Simulakren und Hauptquartiere der Zukunft von gestern, deren Ruinen ich eigentlich besichtigen wollte, zum größeren Teil in ziemlich gutem Zustand sind und vor allem weiter üppig wachsen, wenigstens als Hardware und gebaute Infrastruktur. Das Durchschnittsalter ihrer Gäste ist allerdings in den letzten zwanzig Jahren ständig gestiegen.7 Es ist also ein Wachstum spezieller Art, nämlich Richtung Vergangenheit; ein ständiges Aufdatieren und Erweitern luxuriöser Versionen der Strukturen aus den 1960er und 1970er Jahren, die nicht vergehen dürfen, egal wie viel Kohlendioxid man dafür in die Luft jagt.

Die Alpen sind ja wirklich ein Gefühl: dieses unbestimmte Gefühl von Aufgeregtheit und Herzöffnung auf der Reise, wenn nach all den öden Einkaufszentren und Einfamilienhäusern plötzlich links und rechts der Autobahn die Berge erscheinen, immer höher und steiler; wenn weiter hinten die Dreitausender aufpoppen, mit Schnee obendrauf. »Die Erweiterung der Pupillen beim Eintritt ins Hochgebirge« hat der Schweizer Autor Niklaus Meienberg das 1981 in einem Gedichtband genannt.

Wenn man die Alpen wieder verlässt, gibt es aber kein Gegenstück dazu. Eher Ernüchterung. Oder Erschöpfung. Ferien sind ein großer Gletscher an Vergessenwollen und gleichzeitig der Moment der Wahrheit, deswegen so anstrengend. Was vorher die langersehnte große Belohnung war – das Licht, die Berge, die physische Beschleunigung – verwandelt sich in eine ziemlich mühevolle Aufgabe, die ich aber durchstehen muss, und zwar jetzt. An den französischen Autobahnen auf dem Rückweg standen große Plakate. »Die Ferien warten nicht auf Dich – vor allem nicht an der Mautstelle.«

Sei also ja nicht zu langsam, so die Ermahnung. Deswegen heißen nicht nur die Skiorte, sondern auch die Tankstellen und Mautstellen in Frankreich »stations«, Haltestellen zur besseren Beschleunigung; und deswegen haben wir Alpenkonsumenten es auch immer so eilig mit unseren Motorrädern, Sportwagen, Wohnmobilen und Rennrädern. Denn es ist ja unser Leben, das richtig gute Leben, wir haben nur eines, der Tag ist kurz, und die Zeit läuft. Der lange Anfahrtsweg ist uns egal, der teure Sprit auch, wir wollen so hoch hinauf in die Berge wie möglich, ins gleißende Intensitätstheater, sehnsüchtig, stumm und hungrig nach Licht. Wir wollen dasselbe, was seit hundert oder hundertfünfzig Jahren alle Alpenreisenden wollen und was dort definitiv nicht zu haben ist, ganz egal, wie sehr man aufs Tempo drückt: entkommen.

Anmerkungen

1

Bernhard Tschofen, Die Alpen sehen. In: Nelly Valsangiacomo /Jon Mathieu (Hrsg.), Sinneslandschaften der Alpen. Fühlen, Schmecken, Riechen, Hören, Sehen. Wien: Böhlau 2022.

2

Zit. n. Daniela Zenone, Das Automobil im italienischen Futurismus und Faschismus: seine ästhetische und politische Bedeutung. Berlin: WZB 2002.

3

Susanne Stacher, Sublime Visionen. Architektur in den Alpen. Basel: Birkhäuser 2018; Catrina Klee, Wie der Faschismus den Tourismus für sich nutzte. In: Südtiroler Wirtschaftszeitung vom 13. Oktober 2023.

4

Andrew Denning, How Skiing Went From the Alps to the Masses. In: The Atlantic vom 23. Februar 2015; ders., Skiing Into Modernity. A Cultural and Environmental History. Oakland: University of California Press 2015.

5

Vgl. Sebastian Schels /Olaf Unverzart (Hrsg.), ÉTÉ. Mit einem Essay von Dietrich Erben. Dortmund: Kettler 2020.

6

Umberto Martini /Federica Buffa /Serena Lonardi, The Challenges of Sustainability in the Management of Ski Resorts: The Experience of the Dolomites. In: Ulrike Pröbstl-Haider u.a. (Hrsg.), Winter Tourism. Trends and Challenges. Boston: CABI 2019.

7

Thomas Egger, »Beyond Snow« – Zukunft des alpinen Tourismus. In: Swissfuture, Nr. 51/1, 2024.

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