Heft 898, März 2024

Spätmoderne Nostalgie

von Valentin Groebner

Wir leben in einer »Zeit der Verluste«. So hat der deutsche Publizist Daniel Schreiber sein neues Buch genannt, erschienen im November 2023, und damit meint er die Gegenwart. Das ist ein offensichtlich weitverbreitetes Gefühl – wenn auch nicht immer in so stimmungsvoller Kulisse entstanden wie bei ihm.

Denn er habe sein Buch in Venedig geschrieben, berichtet er seinen Lesern gleich zu Beginn. Aber Verluste sind überall. Der zukunftsfrohe Optimismus von früher sei definitiv vorbei, konstatieren Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey in einer Zeitdiagnose, die im Herbst 2022 erschienen ist; ein »spätmodernes Gefühl der Ohnmacht« habe sich ausgebreitet, wir seien im unübersichtlichen Hinterher angekommen.1 »Unsere Zukunft war da, fix und fertig, eine Sache der Beherrschung und des Wohlstands. Und jetzt geht alles in die Binsen«, hat der französische Philosoph Jean-Luc Nancy 2020 formuliert, »das Klima, die Arten, die Finanzen, die Energie, das Vertrauen und sogar die Möglichkeit der Berechnung, deren wir so sicher waren. Wir können auf nichts mehr zählen – das ist die Lage.«

Spätmoderne Verluste

Wer mit »wir« genau gemeint ist, bleibt dabei unklar. Dafür ist das Gefühl umso stärker: Verlust. Immer neue Erfahrungen von Verlust, so hat der Soziologe Andreas Reckwitz seit 2020 in Artikeln und Interviews verkündet, habe schon die Moderne als Ganze erzeugt.2 Jetzt, in der Spätmoderne, werde das noch intensiviert durch den Zukunftsverlust, die besorgte Vorwegnahme zukünftiger Verluste, im Futur II: »Wir werden verloren haben.«

Das Verkünden eines epochalen Bruchs und der Krise, die alles zu verschlingen drohe und erst das Ausmaß der kollektiven Unfähigkeit enthülle, sind gleichzeitig natürlich großes Kino und verleihen dem, der sie konstatiert und kommentiert, eine wirkungsvolle düstere moralische Glorie. Auf die wollen Großerzählungen von Verlust und Metaverlust nur ungern verzichten. War die gute Zeit also die von gestern, als die Moderne noch modern war, die Sparbuchzinsen solide und die Deutsche Bahn pünktlich?

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