Heft 853, Juni 2020

Die Seuche, der Staat und die lieben Nachbarn

Florenz 1631 von Valentin Groebner

Florenz 1631

Die Bestimmungen klingen vertraut. Die Grenzen werden geschlossen: Wer sie passieren will, muss eine offizielle Bescheinigung vorweisen, dass er oder sie frei ist von der tödlichen ansteckenden Krankheit. Alle Ausländer müssen gehen, sofort. Alle Versammlungen werden verboten, alle Ballspiele; alle Frisöre, Gastwirtschaften und Schulen werden geschlossen, nur Verkaufsstände für Lebensmittel bleiben geöffnet. Die Wohlhabenden fahren in ihre Sommerhäuser. Alle anderen müssen in ihren Wohnungen bleiben, egal wie klein, eng und unkomfortabel sie sind; es sei denn, sie arbeiten in Betrieben, die überlebenswichtig sind für die Stadt, den Staat. Notkrankenhäuser werden eröffnet, die bald überfüllt sind; die Zahl der täglich offiziell registrierten Neuinfizierten steigt unaufhaltsam weiter, bis sie dann kommt, die große Ausgangssperre, vierzig Tage lang: Niemand darf auf die Straße, außer mit offizieller Genehmigung.

Die Pestepidemie in Florenz 1630 und 1631 ist ein Modellfall für den fürsorglichen starken Staat, der alles versucht, um seine Bevölkerung vor einer hochansteckenden tödlichen Krankheit zu schützen, gegen die es keine wirksamen Mittel gibt. Die offizielle Buchpräsentation von Florence Under Siege des britische Renaissancehistorikers John Henderson fand am 27. November 2019 am Originalschauplatz statt, dem ehemaligen Hauptquartier der sanità, der städtischen Gesundheitsbehörde an der Piazza del Duomo; zeremoniell eröffnet vom Vorsitzenden der frommen Bruderschaft der Arciconfraternità della Misericordia, die sich seinerzeit um die Kranken kümmerte. Weniger als dreieinhalb Monate später wurde über Italien ein ganz ähnlicher Ausnahmezustand verhängt wie derjenige, den Henderson eingehend beschreibt. Originalschauplatz ist plötzlich überall; und während ich das schreibe, im April 2020, ist man froh um den tröstlichen Untertitel: Surviving Plague in an Early Modern City.1

Die europaweiten Epidemien von 1629 bis 1632 und 1656/57 waren katastrophal – die verheerendsten seit dem ersten Auftreten des »Schwarzen Todes« in der Mitte des 14. Jahrhunderts. Die in Italien zuerst eingeführte Quarantäne, die »bullete di sanità« – obligatorische Gesundheitszeugnisse für Reisende, einer der Ursprünge der modernen Personalausweise – und extra errichtete Seuchenspitäler galten in der Frühen Neuzeit als die effizientesten Maßnahmen gegen die Pest: Sie wurden hoch gelobt und in ganz Europa studiert.

Die Zeitgenossen wussten nichts von dem komplexen Weg, auf dem das Bazillus Yersinia pestis von Flöhen auf Ratten, Schweine und Menschen übertragen wird; er wurde erst zweihundertfünfzig Jahre später entdeckt. Sie waren fest davon überzeugt, dass die Krankheit durch verpestete Luft übertragen würde. Der Gestank von Latrinen, von Metzger- und Gerbereibetrieben galt deshalb als ebenso gesundheitsschädlich wie der Kontakt mit Erkrankten. Ebenso gefährlich waren auch Gegenstände, vor allem Textilien aller Art, so die feste Überzeugung, weil sie porös seien und verderbliche Miasmen aus Feuchtigkeit und Gestank aufnehmen könnten.

Die Pest war 1629 von deutschen Söldnern nach Oberitalien gebracht worden; im Sommer 1630 hatte sie Mailand, Verona, Bologna und Parma erreicht. Die Lebenden beneideten dort die Toten, notierte der Florentiner Tagebuchschreiber Giovanni Baldinucci, weil so viele Priester, Ärzte und Apotheker gestorben seien, dass niemand mehr die öffentliche Ordnung aufrechterhalte. Umso intensiver bereiteten sich die Florentiner Behörden vor.

Denn die Seuche, so lässt sich bei Henderson eindringlich nachlesen, war die Stunde des Staates. Die Florentiner Behörde Provveditori della Sanità hatte ihre eigene Polizei und ihre eigene Gerichtsbarkeit, ein straff organisierter Staat im Staat mit weitgehenden Vollmachten und großen finanziellen Mitteln. Ihr Hauptquartier auf der Piazza del Duomo war durch besondere Absperrungen gesichert: Informelle Mitarbeiter hatte sie auch, ein dichtes Netz an Denunzianten, die hohe Belohnungen erhielten, wenn sie Erkrankte meldeten.

Denn um nichts weniger als den Staat selbst ging es, einen Staat, der sich plötzlich als einen höchst empfindlichen physischen Körper sah: Die Wohlhabenden seien sein starkes Herz, schrieb der oberste Mediziner der Stadt, Antonio Righi, die Armen seine Blutbahnen und äußeren Gliedmaßen, deswegen besonders gefährdet. Zuvor hatte der Chefarzt der Sanità den Unterschichten noch eine generelle Neigung zu Faulheit und Lastern unterstellt. Prostituierte, ein schnell gebrauchtes Etikett für alle unverheirateten arbeitenden Frauen, galten als mitverantwortlich für die Ausbreitung der Pest. Unmäßiger Geschlechtsverkehr schwäche die Körper und mache sie krankheitsanfälliger, wusste Righi; außerdem ziehe die Unzucht den Zorn Gottes auf die ganze Stadt.

Diese Armen mussten nun beschützt werden, im Zweifelsfall vor sich selbst. Im Auftrag der Sanità waren im August 1630 detaillierte Berichte über die sanitären Zustände in den Armenvierteln erstellt worden. Die noblen Mitglieder der Bruderschaft vom Erzengel Michael inspizierten Haus für Haus und protokollierten feuchte Wohnungen, undichte Kloaken, Einzimmerbehausungen ohne Fenster, in denen alleinstehende Frauen unter miserablen Umständen lebten, und verrottete Matratzen. Auf Staatskosten sollten Latrinen repariert und gesundheitsschädliche Matratzen und Betten durch neue ersetzt werden – 2300 insgesamt. Zudem sollten tägliche alle verdächtigen Krankheitsfälle registriert werden: Statistiken wurden schon im 17. Jahrhundert geführt, weil die Behörden ihre Tätigkeit so rechtfertigen konnten.

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