Heft 877, Juni 2022

Angstlust

Eine Ansteckung aus der Vergangenheit von Valentin Groebner

Eine Ansteckung aus der Vergangenheit

28. Dezember 2020, Zürich. Vor dem Supermarkt auf der Limmatbrücke steht ein dünner Mann mit Trainingshosen und weit aufgerissenen Augen und fängt plötzlich an zu schreien, auf Italienisch: »Vi sarete tutti morti«, immer wieder. Die Passanten weichen ihm höflich aus (er trägt keine Maske) und gehen weiter. Der schreiende Mann hat ja Recht, wir werden alle sterben. Aber weil das vermutlich nicht gleich jetzt geschieht, trotz der neuen ansteckenden Krankheit, bringen wir vorher noch unsere Nachweihnachtseinkäufe nach Hause. Was für eine Geschichte wollte er erzählen?

Große Rückblende: 1979 kam Die Hamburger Krankheit von Peter Fleischmann in die Kinos, ein vom ZDF mitproduzierter Doku-Thriller über eine geheimnisvolle tödliche Epidemie mit abgesperrten Städten, Quarantänen, Ausgangssperren (und illegalen Partys). Im selben Jahr stürmte London Calling die Hitparaden, in dem The Clash Endzeit und Kernschmelze als Lebensgefühl besangen. Am Ende der siebziger und am Beginn der achtziger Jahre waren viele davon überzeugt, dass die Menschheit direkt auf eine globale Katastrophe zusteuere: Atomkrieg, Nuklearunfall, ökologischer Kollaps, tödliche Seuche oder alles zusammen. Die Unterhaltungsindustrie mit Romanen, Filmen und Fernsehserien war nicht weniger von diesen Szenarien geprägt als der politische Alltag.

Ich gehörte damals der militanten linken Subkultur in Westdeutschland an, und die unterhielt zu diesen Prophezeiungen ein ebenso intensives wie paradoxes Verhältnis. Erst einmal waren sie Bestätigung dafür, wie schlimm es um die Welt stand. Wer Angst hatte, hatte Recht. Alles hing zusammen. Hatten 1979 nicht der Störfall im amerikanischen AKW Harrisburg und der Hamburger Giftskandal auf dem Gelände der Firma Stoltzenberg gezeigt, wie eng verknüpft militärische Massenvernichtung und Umweltverschmutzung waren? Als 1982 auf einer Diskussionsveranstaltung über die Nachrüstung in einer hessischen Kleinstadt ein Freund (damals zwanzig) aufstand und den Experten auf dem Podium zurief: »Wir haben einfach Schiss, vor den Raketen und der Umweltverschmutzung, versteht ihr das nicht?«, klatschte der ganze Saal begeistert Beifall.

Angst als Auserwähltheit

Angst war unverzichtbar Anfang der Achtziger. Wir – auch das Wir war unverzichtbar – fühlten uns wirklich bedroht, dauernd und von sehr vielem. Emphatisch bekundete gemeinsame Angstgefühle, gegen die nur gemeinsames politisches Handeln helfe, solidarisch und gewaltfrei natürlich, standen vor vierzig Jahren im Zentrum von Kundgebungen, Menschenketten und politischen Selbstauskünften aller Art. Wer so auftrat, ob es nun um Atomkraft, amerikanische Mittelstreckenraketen, Flughafenausbau oder Umweltzerstörung ging, tat das in dem Bewusstsein, das unschuldige, aber wissende Opfer der zerstörerischen Politik anderer zu sein; großer, mächtiger und meist nur sehr allgemein adressierbarer Anderer, die als »die staatliche Politik«, »die Herrschenden« oder (eine ältere deutsche Politvokabel mit ambivalenter Geschichte) »das System« aufgerufen wurden.

In meinem unmittelbaren Umkreis wurde nach 1983 über die großen Friedensdemonstrationen aber zunehmend abschätzig gesprochen. Wir wollten uns nicht nur fürchten, singen und vor Fernsehkameras Händchen halten, sondern »was dagegen machen« – mit der Betonung auf »machen«. Die allgemeine Angst vor dem unmittelbar bevorstehenden großen Wumms brachte interessante Gruppendynamiken in Gang, eine Art Um-die-Wette-Fühlen. Wer setzte die Einsicht in die katastrophale Aussicht unmittelbarer, konsequenter und radikaler um?

Angst taugt sehr gut zur Selbstermächtigung: Mit dem Beschwören der unmittelbar bevorstehenden und unaufhaltsamen Katastrophe ließ sich nicht nur die banale Alltagswelt ausblenden, man konnte zugleich fragile Empfindsamkeit demonstrieren (»Es wird ganz schlimm werden!«) und sich als Auserwählter fühlen (»Und nur wir schauen dem ins Auge.«). Zwischen Herbst 1984 und Sommer 1985 eröffneten sich neue, aufregende Perspektiven. Ich lernte, wie schnell ich mich aus einem schüchternen dünnen Studenten im vierten Semester in einen radikalen Kämpfer verwandeln konnte. Verwandlung durch Angstwut war gar nicht schwierig. Die richtige Musik hören, laut und düster. Die richtigen Klamotten anziehen – schwarz, am besten eine schwere alte Lederjacke. Maskiert auftreten war wichtig, am coolsten war eine schwarze Sturmhaube. Plus Helm, je nach Situation.

Die gemeinsamen Mutproben bauten in gewisser Weise aufeinander auf. Zuerst im militanten Teil der Demonstration mitmarschieren, dann Steine werfen, entweder in Schaufenster oder auf die Polizei, schließlich Autos querstellen, umkippen und anzünden. Dafür bekam man schulterklopfende Anerkennung von anderen, noch cooleren Jungs. Denn irgendwann waren es nur noch Jungs, oder fast.

Angstwut war Spektakel: Diese Aufführungen waren aufregend, furchteinflößend und teilweise auch wirklich riskant. Man konnte verprügelt und festgenommen werden und zu Geld- oder Haftstrafen verurteilt. In meinem Fall hätte das auch das Ende meines Aufenthalts und meines Studiums in der Bundesrepublik bedeutet, verhaftete Demonstranten mit ausländischem Pass wurden flott abgeschoben.

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