Hexen und Leihmütter
Silvia Federicis Kapitalismustheorie von Timo LuksSilvia Federicis Kapitalismustheorie
Jede Theorie des Kapitalismus steht und fällt mit der Entscheidung, welche Aspekte seiner Geschichte sie ein- oder ausschließt. Im historischen Material, auf anekdotischem oder definitorischem Weg gewonnene Behauptungen der wesentlichen Merkmale des Kapitalismus implizieren Setzungen über seine räumliche und zeitliche Ausdehnung. So hat die Definition als kapitalintensive Massenproduktion nicht nur den Effekt, Kapitalismus, Wirtschaftswachstum und industrielle Revolution bis zur Ununterscheidbarkeit ineinander zu schieben. Sie führt auch dazu, dass bestimmte Weltregionen und Epochen aus der Geschichte herausgeschrieben werden.
Die Zuspitzung von Kapitalismus auf Industriekapitalismus ist nur ein Beispiel. Andere Beispiele sind die Debatten um Kolonialismus, Sklaverei oder den Stellenwert des frühneuzeitlichen Handelskapitalismus für eine Gesamtgeschichte des Kapitalismus. Nicht zuletzt haben Kapitalismustheorien, die sich auf eine bestimmte historische Phase beziehen, Schwierigkeiten, neue Entwicklungen wie den vieldiskutierten digitalen oder Plattform-Kapitalismus zu verstehen. Das Spannungsverhältnis von Kapitalismustheorie und Kapitalismusgeschichte lässt sich nicht auflösen, sondern muss immer wieder neu ausbuchstabiert werden.
Themen, die aufgrund dieser oder jener definitorischen Entscheidung auf der Strecke bleiben, dienen oft als Hebel für alternative Theorien. Die Arbeiten der italienischen feministischen Theoretikerin Silvia Federici (Jahrgang 1942), die seit vielen Jahren in New York lebt, lehrt und forscht, zeigen genau das. Bekannt geworden ist Federici als Mitinitiatorin der internationalen Kampagne »Lohn für Hausarbeit« Anfang der siebziger Jahre und seither als engagierte Publizistin. Caliban and the Witch, ihr Hauptwerk, erschien 2004. Bei den jüngsten Veröffentlichungen, die nun im Rahmen einer kleinen Publikationsoffensive in Übersetzung vorliegen, handelt es sich um Essaysammlungen.
Die Texte greifen durchweg Fragen auf, die in Caliban und die Hexe verhandelt wurden, und sie bemühen sich um eine Aktualisierung des ursprünglichen analytischen Rahmens (wobei die Autorin ihren Stolz auf das eigene, weithin beachtete Werk bemerkenswert offen zur Schau trägt). Federici behandelt Caliban und die Hexe als offenes Buch, das zwar vor inzwischen über fünfzehn Jahren erschien, aber zu keinem Zeitpunkt im strikten Sinn (ab)geschlossen wurde. Eher handelt es sich um ein Basislager, von dem aus weitere Erkundungen möglich werden.
Wer sich unter den jüngsten Home-Office- und Quarantänebedingungen darin bestätigt gefunden hat, dass sich der Haushalt eben nicht von alleine macht, dass die Sorge um Kinder, Alte, Kranke anderes bedeutet als eine günstige Gelegenheit für profitorientierte Dienstleistungsunternehmen, dass diese häufig von Frauen übernommenen Tätigkeiten funktionieren müssen, damit »die Wirtschaft« und »der Kapitalismus« funktionieren können – für den oder die halten die Essays Silvia Federicis einiges bereit. In ihnen tummeln sich Gestalten, die nicht zum Repertoire etablierter Theorien und Geschichten des Kapitalismus gehören: alte und neue Hexen, sorgende Hausfrauen, Schwangere und Leihmütter, Prostituierte und Altenpflegerinnen. Dabei verblüfft vor allem, wie Federici – manchmal nonchalant, manchmal brachial – alle Weltregionen durchmisst und den Brückenschlag zwischen der Frühgeschichte des Kapitalismus und seiner Gegenwart erprobt.
Caliban und die Hexen der Neuzeit
Caliban und die Hexe ist ein Klassiker der feministischen Kapitalismusforschung. Das Buch zieht seine Kraft aus der kritischen Auseinandersetzung mit Marx und dem Marxismus, steht vor allem aber für eine produktive Verbindung von historischer Analyse und Theoriearbeit. Bei Caliban handelt es sich um eine Figur aus Shakespeares Der Sturm (»ein wilder und mißgestalteter Sklave«; »Mensch oder Fisch? Tot oder lebendig?«; »Diener-Monster«; »aberwitzige Inselmißgeburt«; »Menschen-Monster Monster-Mensch«), die man erniedrigt, betrunken macht und die Bibel küssen lässt. Bei Federici wird Caliban – immerhin der Sohn der mächtigen Hexe Sycorax – vom »antikolonialen Rebellen, dessen Kampf noch in der zeitgenössischen karibischen Literatur nachhallt«, zum »Symbol des Weltproletariats, genauer: des proletarischen Körpers als Terrain und Mittel des Widerstands gegen die Logik des Kapitalismus«. Er steht für die Imaginationen des undisziplinierten, unproduktiven, zügellosen, wilden Körpers.
Silvia Federici situiert ihr Hauptwerk im Kontext feministischer Forschungen, die sich seit den siebziger Jahren der Rolle von Frauen im Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus gewidmet hatten. Caliban und die Hexe will die Unterdrückung der Frau nicht aus überhistorischen kulturellen Strukturen, sondern als Funktion konkreter »Produktions- und Klassenverhältnisse« erklären. Vor allem aber richtet sich das Buch gegen eine im Marxismus gängige Vernachlässigung von Reproduktionsweisen. Es handelt sich um den Versuch, die Geschichte der ursprünglichen Akkumulation aus feministischer Perspektive neu zu schreiben: »Marx untersucht die ursprüngliche Akkumulation vom Standpunkt des entlohnten männlichen Proletariats und der Entwicklung der Warenproduktion, ich dagegen vom Standpunkt der Veränderungen, die die ursprüngliche Akkumulation hinsichtlich der Stellung der Frauen und hinsichtlich der Produktion der Arbeitskraft bewirkt hat.«