Heft 906, November 2024

Zur Soziologie des Verlusts

von Oliver Schlaudt

I

Der Wunsch, in die Zukunft blicken zu können, muss uralt sein, denn er ist den Mythen vieler Kulturkreise gut bekannt, und sie belegen ihn oft mit einem hohen Preis, fordert er doch das Privileg der Götter auf Allwissenheit heraus. Während die Unkenntnis darüber, was das Schicksal einem jeden von uns bereithält, weiterhin zur conditio humana gehört, hat sich die Situation doch grundlegend geändert, wenn man nach den Rahmenbedingungen statistischer Kollektive fragt. Per Knopfdruck lässt sich mit den Computermodellen der Klimawissenschaften eine Prognose berechnen, wie es uns und unseren Nachkommen in einigen Jahrzehnten ergehen wird, und die Aussichten sind nicht gut. Die Menschheit ist im Begriff, den Boden unter den Füßen zu verlieren. Das Zeitfenster, in dem das Schlimmste noch abgewendet werden könnte, schließt sich. Unsere Gesellschaften scheinen allerdings in all ihren Entscheidungen konsequent den falschen Weg einzuschlagen, offenbar fest entschlossen, die Welt in einem sinnlosen Konsumrausch zugrunde gehen zu lassen.

Die Klimawissenschaften finden sich mithin weniger in der antiken Rolle des Tantalos wieder, der das Wissen der Götter versuchte, sondern vielmehr in der der Kassandra, die Apollo mit dem grausamen Fluch belegte, zwar in die Tiefen einer unschönen Zukunft blicken zu können, aber mit ihren Warnrufen kein Gehör zu finden. In dieser Qual blieb sie sich sodann selbst überlassen: »Alles ist der Freude offen, / Alle Herzen sind beglückt, / Und die alten Eltern hoffen, / Und die Schwester steht geschmückt. / Ich allein muß einsam trauern, / Denn mich flieht der süße Wahn, / Und geflügelt diesen Mauern / Seh’ ich das Verderben an.«

Forschende in den Klimawissenschaften müssen sich in diesen Zeilen Friedrich Schillers wohl wiederfinden. »It’s profoundly painful not to be able to change it«, ruft eine Spezialistin für den Amazonas-Regenwald nach den großen Bränden von 2015 aus: »Burnt forests tell the story of a past that is no more, and of an unfortunate future for most of the Amazon«. Zitiert wird sie in einem Artikel, den kürzlich das Wissenschaftsmagazin Nature eigens der Frage widmete, welche Strategien Forschende entwickeln, um mit der mentalen Erschöpfung umzugehen, die ihnen aus Verzweiflung an der Lage droht.

Nur 6 Prozent der in die IPCC-Berichte involvierten Autoren glauben daran, dass das 1,5-Grad-Ziel noch erreichbar ist. Sie machen sich keine Illusionen, und diese Situation schlägt sich in entsprechenden Emotionen nieder. In der Literatur ist von »eco-anxiety« die Rede, die eine Form von Stress darstellt. Bekannt ist auch der als »solastalgia« bezeichnete Schmerz beim Verlust eines heimatlichen Ökosystems. In dem Nature-Artikel ist wie in Schillers Kassandra-Gedicht sogar von Trauer die Rede, »climate grief«, und es wird ein Good Grief Network vorgestellt, das es sich zum Ziel gesetzt hat, Menschen bei der Verarbeitung von Klimaangst und -trauer zu unterstützen.

Im Zusammenhang mit den Zukunftsprognosen der Klimawissenschaften bewirkt das Wort »Trauer« eine eigenartige Perspektivenumkehr. Die katastrophenumwölkte Zukunft wirkt wie ein dunkler Spiegel, der den prophetischen Blick der Klimamodelle in die entgegengesetzte Richtung zurückwirft und trauernd zurückblicken lässt auf unsere Gegenwart, die alsdann zur Vergangenheit geworden sein wird – und die einem darüber fast beginnt, unwirklich vorzukommen, wenn man, Schillers Kassandra gleich, in all ihrem Prunk immer auch schon die Ruine sieht, zu der zu verfallen sie sich ja selbst bestimmt. Auf diese seltsame Weise wird unserer Gesellschaft nicht nur die prophetische Vorausschau, sondern auch der schmerzhafte Rückblick zu einem existentiellen Anliegen.

Aber ist Trauer hier der richtige Begriff? Auf Sigmund Freud geht die Vorstellung einer Trauerarbeit zurück, in der eine allmähliche Loslösung von dem real bereits verlorenen, als Vorstellung aber noch zurückgehaltenen Menschen, Gegenstand oder Zustand geschieht, was nach einigem Sträuben, die wir eben als Trauer empfinden, gelingt. Am Werk sieht Freud (in Trauer und Melancholie) darin den bloßen Lebenswillen, der »das Ich dazu bewegt, auf das Objekt zu verzichten, indem es das Objekt für tot erklärt und dem Ich die Prämie des am Leben Bleibens bietet«. Nach Vollendung der Trauerarbeit wird das Ich »wieder frei und ungehemmt«.

Ob sich Klimatrauer nach diesem Modell verstehen lässt, ist schon deshalb fraglich, weil es dabei in vielen Fällen um Verluste geht, über deren Bedeutung wir überhaupt erst durch wissenschaftliche Forschung erfahren. Überdies passt die Zielvorgabe im Modell der Trauerarbeit nicht. Wir können die verlorene Natur nicht einfach »für tot erklären«, um wieder »frei und ungehemmt« zu werden. Auch in Alexander Eisenachs Anthropozän-Stück Anthropos, Tyrann (Ödipus) ist der Begriff der Trauer zentral, aber ihre funktionale Rolle wird im Off-Kommentar vom Band vorsichtig adjustiert: »Unsere Trauer erlaubt uns nicht, angesichts dessen zynisch zu werden, nicht melancholisch oder gar nostalgisch. WIR TRAGEN TRAUER. Die Trauer erlaubt uns, zu verstehen, dass jemand wirklich gestorben, dass etwas wirklich und unwiederbringlich verschwunden ist. Indem wir trauern, erkennen wir uns als mit dem Verlorenen verwandt. WIR TRAGEN TRAUER. Die Trauer lässt uns erwachsen werden. Sie lehrt uns, Verantwortung zu übernehmen. Wir trauern, um zu lernen, auf einem beschädigten Planeten zu leben, in den Ruinen vermeintlicher Größe.«

In dem Nature-Artikel setzt ein Klimawissenschaftler die Trauer der Angst geradezu entgegen: Angst trennt von der Welt, die Trauer, so wie er sie versteht, soll wieder mit ihr verbinden. Trauer um den Verlust also als Quelle für die Kraft, zu retten, was an intakter Umwelt, an kultureller und natürlicher Vielfalt noch nicht verloren ist. In Alexander Eisenachs Theaterstück kommt im Modus des Futur II auch das besondere Verhältnis zur Zeit zur Sprache, das sich in dem seltsamen Rückblick aus dem dunklen Spiegel der Zukunft abzeichnet: »Das hier wird eine Tragödie gewesen sein […] Diese Tragödie wird sich nicht von außen betrachtet haben lassen. Diese Tragödie wird bereits gespielt worden sein, wenn die Prozesse des Verstehens beginnen.«

Ohne hier weiter in die Tiefe zu gehen, wird klar, dass unsere besondere Gegenwart ein präzises Nachdenken über die Begriffe von Verlust und unsere Verhältnisse zu ihm – Trauer, Nostalgie, Melancholie – fordert, ein Nachdenken, das unsere existentiellen Verhältnisse zur Welt und den Modi der Zeit – Zukunft, Gegenwart und Vergangenheit – berührt. Es knirscht vernehmlich im metaphysischen Gebälk der Moderne, und das sollte uns zu denken geben. Ein solches Nachdenken muss allerdings auch sich selbst gegenüber kritisch sein. Kann es sich bei Phänomenen wie eco anxiety und climate grief in westlichen, akademischen Kreisen nicht um so etwas wie »white fragility« (Robin DiAngelo) handeln, also jenes aus der privilegierten Position resultierende Unvermögen, mit Frustrationen und anderen negativen Erfahrungen umzugehen, oder, schlimmer noch, weil ideologisch verblendet, um eine Marotte einer selbstbezüglichen »PMC«, der »professional-managerial class« (Ehrenreich & Ehrenreich), die sich und ihre Befindlichkeit für den Nabel der Welt hält und der auch die ökologische Krise bloß ein billiger Anlass ist, in der Suche nach Distinktion die eigene Betroffenheit zur Schau zu stellen? Sicher, zwei bloß dahingestellte Hypothesen, die beide aber immerhin erklären würden, warum in der ökologischen Krise Wissen partout nicht in angemessenem Handeln mündet, warum wir so matt und tatenlos sind.

II

Die Fragen sind damit gestellt, Vorschläge für Antworten willkommen. Da kommt es gerade recht, dass Andreas Reckwitz, der bereits mit seiner Gesellschaft der Singularitäten im Genre der Gegenwartsdiagnose 2016 hohe Wellen geschlagen hat, nun unter dem Titel Verlust – Ein Grundproblem der Moderne eine »Soziologie des Verlusts« vorgelegt hat. Was sich hier Soziologie nennt, hat sich, wie bei diesem Autor üblich, weit von dem Anspruch entfernt, auf empirischer Grundlage kausale oder gesetzmäßige Erklärungen für soziale Phänomene zu liefern. Es geht eher um eine Gegenwartsdiagnose mit einem Fokus darauf, dass unser Umgang mit Verlust nichts (rein) Individuelles ist, sondern einigermaßen klaren epochen- und (in meinen, nicht seinen Worten) klassentypischen Mustern folgt, die sich mit der Zeit ändern. Man mag von der Soziologie anderes erwarten, aber für unsere Zwecke ist es willkommen. Auch verlangt es analytischen und hermeneutischen Scharfsinn, diese Muster herauszulesen, und darin besteht bei aller Kritik, die man sonst hegen mag – und die später noch zur Sprache kommen wird –, eine Stärke von Reckwitz.

Möchten Sie weiterlesen?

Mit dem Digital-Abo erhalten Sie freien Zugang zum gesamten MERKUR, mit allen Texten von 1947 bis heute. Testen Sie 3 Monate Digital-Abo zum Sonderpreis von nur 9,90 Euro.

Jetzt Probelesen

Weitere Artikel des Autors