Heft 911, April 2025

Foucault bei den Galliern

Die Dekolonialisierung des dekolonialen Diskurses von Christoph Paret

Die Dekolonialisierung des dekolonialen Diskurses

Auf einmal geben sich alle de- und antikolonial: die Länder des globalen Südens, die Palästinenser, die Ukraine in ihrem Abwehrkampf, sogar Russland und China, die behaupten, sich einer westlichen Hegemonie zu erwehren und sich anschicken, die »US-amerikanischen Kolonien« namens Ukraine und Taiwan zu befreien. Die entschiedenste antikoloniale Kraft Deutschlands? Es ist – die Wirklichkeit erzählt sich die schlechtesten Witze noch immer selbst – die AfD in ihrem wackeren antikolonialen Mehrfrontenkampf: gegen den militärischen Kolonialismus der USA, den bürokratischen Kolonialismus der EU, den medialen Kolonialismus der Öffentlich-Rechtlichen, den demografischen Kolonialismus muslimischer Einwanderer und schließlich gegen den akademischen Kolonialismus der Universitäten, insbesondere die Kolonisierung durch die Postcolonial Studies.

Zugegeben, nicht immer fällt es leicht, zwischen eingebildeten und echten Kolonisierten zu unterscheiden: Die selbsterklärten antikolonialen Kämpfer – sind sie besetzt oder doch nur besessen? Das eigene Kolonisiertsein erweist sich aber nicht nur bisweilen als Selbsttäuschung, sondern auch als Selbstdarstellung: Glaubt man, dass man okkupiert ist, oder will man es andere glauben machen? Der Verweis auf eine reale oder imaginäre Besatzungsmacht hilft, Anhänger zu rekrutieren. Falls umgekehrt momentan noch irgendwo Imperien gebildet werden (China?), vollzieht sich das so geräusch- und programmlos wie nie zuvor in der Geschichte: ein Imperialismus auf Taubenfüßen.

Demgegenüber bildet die Antikolonialität den Generalnenner noch der feindseligsten Positionen. Doch das verleiht der antikolonialen Stoßrichtung nur eine zusätzliche Rechtfertigung: Je mehr man sich kolonisiert vorkommt, desto eher wird man geneigt sein, die Emanzipation von außen zu erhoffen – was wiederum auf andere so wirken kann, als würden nur neuerliche Kolonisatoren eingeladen.

Die Rechte, die sich vom öffentlich-rechtlichen Rundfunk und der »Wokeness« kolonisiert fühlt, kann ihre Rettung in einem Musk erblicken, der die Plattform X aufkauft und ihre Rede in die Freiheit entlässt, aber aus Sicht der Gegenpartei den öffentlichen Diskurs kolonisiert. Wer nicht glauben mag, dass Deutschland 1945 befreit wurde (»Sklavenstaat«), wird den Blick hoffnungsvoll auf jenes Russland richten, das neokolonialer Ambitionen nicht gerade unverdächtig ist.

Dann gibt es noch die leider nur Postkolonialen, die den antikolonialen Kämpfen der Fünfziger und Sechziger hinterhertrauern und sich auf den vermeintlich letzten verbliebenen antikolonialen Kampf stürzen: den palästinensischen Widerstand, womit sie sich an die Seite von Demonstranten stellen, die andere wiederum als Kolonisatoren identifizieren: die islamistischen Horden auf unseren Straßen.

Generelle Regel: Des einen Befreier ist des anderen Kolonist. Es kommt im dekolonialen Zwielicht zu den seltsamsten Allianzen: Ein Amerika, das nicht mehr imperial und nur noch nationalistisch sein will, wendet sich gerade deshalb mit großer Freundlichkeit einer amerikafeindlichen Partei zu. Ami, go home? Ja, nichts lieber als das. Deshalb führt Elon Musk auf dem AfD-Parteitag einen antikolonialen Diskurs, wenn er dazu auffordert, die olle Kamelle der »vergangenen Schuld« ruhen zu lassen, um sich auf den letzten Schrei deutscher Antikolonialität zu besinnen: den »Kampfeswillen der germanischen Stämme«, der immerhin bereits den Kolonisator Julius Cäsar beeindruckt habe.

Man merkt schon: Lange Zeit war der dekoloniale Diskurs nur positiv besetzt, mittlerweile ist er einfach nur noch besetzt, und zwar von allen möglichen politischen Seiten. Es ist längst viel zu einfach geworden, dekolonial zu sein. Jetzt müsste man zumindest metakolonial werden, wenn denn nicht die heutige Aufgabe lautet: Dekolonialisiert den dekolonialen Diskurs!

Eine derartige Devise kann allerdings nach rechts und nach links gewendet werden, je nachdem, ob man glaubt, dass einen der dekoloniale Diskurs okkupiert oder dass dieser Diskurs okkupiert wird. Das ist die rechte Version: »Befreit euch vom Imperialismus der postkolonialen Studien! Erhebt euch gegen die Invasion des dekolonialen Diskurses, der aus angelsächsischen Eliteuniversitäten stammt, und mag er sich noch so kritisch gegen das ›westliche Denken‹ wenden! Durchschaut seine Tricks: Man kolonialisiert euch, indem man euch einredet, dass ihr die Kolonialherren wart.«

In der linken Variante hat die Dekolonisierung der Dekolonialität folgendes Aussehen: »Restituiert den postkolonialen Diskurs! Gebt ihn seinen angestammten Sprechern zurück! Gesteht ein, dass ihr fremdes Gebiet für euch beansprucht, wenn ihr euch anti- und dekolonial aufführt. Die kulturelle Aneignung der Dekolonisierung muss rückgängig gemacht werden, der dekoloniale Diskurs muss seinen indigenen Sprechern zurückerstattet werden!«

Diese saubere Rechts-links-Unterscheidung bräche allerdings zusammen, sollte sich herausstellen, dass der antikoloniale Diskurs den Grundstein für die Rechte überhaupt erst gelegt hat, er also in allererster Linie der Rechten zurückerstattet werden müsste, und dass umgekehrt diejenigen, die sich zunächst einmal aus ihm herausgearbeitet haben, gerade dadurch erst bürgerlich wurden anstatt rechts.

Wer aber hätte jemals behauptet, dass die ersten maßgeblichen antikolonialen Sprecher den Diskurs geprägt haben, der einmal das »rechte Denken« sein würde? Es war genau der Michel Foucault, dem kürzlich noch vorgeworfen wurde, sich »nicht gerade üppig zu Fragen des Kolonialismus und Neokolonialismus« geäußert zu haben.1

In Wahrheit hat Foucault im Jahr 1976 eine ganze Vorlesung zu (anti)kolonialen Diskursen abgehalten. Publiziert ist sie unter dem Titel In Verteidigung der Gesellschaft. Wie ein Ufo senkt sie sich auf unsere Debatten herab. Wer von uns hätte gerade nicht seine postkoloniale Dissertation in Arbeit oder sein dekoloniales DFG-Projekt, wer würde nicht eine dekoloniale Gedenkstätte betreuen oder wenigstens seinen dekolonialen Instagram-Account bearbeiten, wer würde nicht seine kleine heilige dekoloniale Empörung pflegen und sein kleines dekoloniales unheiliges Ressentiment?

Foucault aber geht anders vor. Statt an die dunkle Kolonialgeschichte zu erinnern, bringt er die dunkle Geschichte der Antikolonialität in Erinnerung mit ihren Grausamkeiten, ihren Lügen, mit ihrer List, und es ist »ein trauriger und schwarzer« Diskurs, den er da zutage fördert, »vielleicht ein Diskurs für nostalgische Aristokraten und Bibliotheksratten«,2 vielleicht keiner für dekoloniale Aktivisten, wer weiß, wobei man hinzusetzen muss, dass Foucault diese antikoloniale Geschichte gerade wegen ihrer anstößigen Seiten so sehr schätzt.

Gallier in Algerien

In einem bezeichnenden Moment dieser Vorlesung heißt es: »Ich weiß nicht, wie die Schulbücher heute aussehen, aber vor noch nicht langer Zeit begann die Geschichte Frankreichs mit der Geschichte der Gallier. Und der Satz ›unsere Vorfahren, die Gallier‹ (der lächerlich ist, da man ihn den Algeriern und Afrikanern beibrachte), hat einen sehr präzisen Sinn.«

Welchen Sinn? Einen antikolonialen, was den Satz schon weniger lächerlich macht. Es mag auf Anhieb absurd erscheinen, jenen, die man kolonisiert, die eigenen gallischen Vorfahren unterzuschieben, allerdings präsentieren sich diese Gallier, seitdem man ihre Geschichte erzählt, als Leute unter Fremdherrschaft: erst kolonisiert von den Römern, dann kolonisiert von den Franken. Weit entfernt davon, eine verdrängte dunkle Kolonialgeschichte zu erzählen, macht Foucault deutlich, dass man sich spätestens seit dem 17. Jahrhundert seine eigene Geschichte immer schon als Kolonialgeschichte erzählte.

Fast möchte man sagen: Bevor es Kolonisierung gab, gab es bereits Kolonialgeschichte. Und wenn Europa in dieser Vorlesung einen Auftritt hat, dann weniger als eine Ansammlung von Kolonialmächten, denen man dann antikoloniale Diskurse entgegenhalten könnte. Stattdessen zeigt sich, dass die ersten (anti)kolonialen Diskurse strikt innereuropäischer Natur waren, ja, dass das Konzept »Europa« als (anti)koloniales Projekt geboren wird. Man erfindet Europa im 17. Jahrhundert als eigenständiges räumliches Gebilde – und ebenso sehr das Mittelalter als eigenständiges zeitliches Gebilde – neu, indem man eine Kolonialgeschichte erzählt und sich weigert, einen bruchlosen Übergang von Troja über Rom bis in die Gegenwart hinein zu behaupten: »Im Bewußtsein Europas steigen Ereignisse auf, die bis dahin nur vage Wendungen gewesen waren und im Grunde die große Einheit, die große Legitimität, die große blendende Kraft Roms nicht angetastet hatten. Es kommt zu Ereignissen, die nun die wahren Anfänge Europas bilden werden – blutige Anfänge, Anfänge der Eroberung: die Invasion der Franken, die Invasion der Normannen. Es erscheint etwas, das sich als ›Mittelalter‹ individualisieren wird.«

Die Invasion der Normannen und die Invasion der Franken: Foucault spielt hier auf zwei Diskurse an, die ihren Schauplatz in England ab 1630 und in Frankreich ab 1680 haben. Wenn die Puritaner und das Volk und das Kleinbürgertum sich gegen den englischen Monarchen in Stellung bringen oder wenn ein halbes Jahrhundert später die von der Machtausübung ausgeschlossenen Aristokraten ihre Position nach oben gegen den absolutistischen Herrscher und nach unten gegen den Dritten Stand markieren, dann formieren sie sich dezidiert als antikolonial. Die englische Monarchie wird als Rechtsnachfolgerin der normannischen Eroberung aus dem Jahr 1066 gelesen. Aus einer englischen Chronik: »Von den Normannen stammen die großen Personen dieses Landes ab; die Personen einfacher Lebensumstände sind Söhne der Angelsachsen.« Und die französische Aristokratie und Monarchie werden auf eine germanische Gründungshorde von der anderen Rheinseite zurückgeführt, die unter Chlodwig im 4. und 5. Jahrhundert in Gallien einfiel. Die zeitgenössische Situation wird zur damaligen Zeit als eine fortgesetzt koloniale begriffen.

Und so redet man in Europa zu genau dem Zeitpunkt über Kolonisation, in dem man anfängt, selbst in Übersee zu kolonisieren. Während diese Kolonisation aber weitgehend stillschweigend vonstatten geht, entwickelt sich parallel dazu ein umso intensiverer Diskurs über die Invasionen der Normannen, die Invasion der Franken, die Invasion der Burgunder, die Invasion der Goten. Hat wirklich niemand die Verbindung gezogen? Vielleicht doch. Foucault zitiert die kuriose Bemerkung eines gewissen Blackwood, der sich im Jahr 1581 dazu angehalten sieht, die englische Krone vor dem Vorwurf in Schutz zu nehmen, Nachfolger fremder Invasoren zu sein. Seine Verteidigungsstrategie läuft auf eine Art »Na und!?« hinaus: »Man muß die Lage Englands zum Zeitpunkt der normannischen Invasion so verstehen, wie man jetzt die Lage Amerikas gegenüber den noch nicht als kolonial bezeichneten Mächten zu verstehen hat. Die Normannen waren in England, was die Europäer gegenwärtig in Amerika sind. Was Karl V. in Amerika getan hat und wir vollkommen legitim finden, da wir dasselbe tun, haben die Normannen, täuschen wir uns da nicht, in England getan. Die Normannen sind mit demselben Recht in England wie wir in Amerika, d.h. dank des Rechts der Kolonisierung.«

Das Recht der Kolonisierung. Die noch nicht als kolonial bezeichneten Mächte. Normalerweise lässt sich nicht sagen, wann ein Wort zum ersten Mal in einem bestimmten Zusammenhang gebraucht wurde. Die »noch nicht als kolonial bezeichneten Mächte«, die gerade Amerika erobern, werden in Form dieser Negation allerdings zum ersten Mal als solche bezeichnet. Es sind jene, die mittlerweile in allererster Linie als kolonial bezeichnet werden. Dagegen wäre es seltsam, wollte aktuell jemand die Kolonisierung der Angelsachsen durch die Normannen – oder der Gallier durch die Franken – zum Politikum machen. Derartige Diskurse sind im deutschsprachigen Raum unter dem Begriff »Völkerwanderung« vom dekolonialen Diskurs entschieden abgespalten worden. Sie sind den professionellen Entschärfern zur sicheren Verwahrung anvertraut, die unsere Althistoriker und Mediävisten sind.3 Foucault holt sie mitten hinein in unsere dekoloniale und antikoloniale Gegenwart.

Das Beispiel des Feudalismus: Man lasse für den Moment die Frage auf sich beruhen, was der Feudalismus, dieses fast tausendjährige historisch-rechtliche System der europäischen Gesellschaften zwischen dem 6. und 15. Jahrhundert, in Wahrheit war. Es ist ausreichend, sich darauf zu konzentrieren, wie der Feudalismus als Konzept bei seinem erstmaligen Auftauchen verstanden wurde. Gewiss findet sich beim aristokratischen Historiker Henri de Boulainvilliers die bekannte eigentümliche Aufgabenteilung zwischen drei Gruppen (diejenigen, die das Land bestellen; jene, die sich schlagen und Schutz gewähren; schließlich jene, die für das Seelenheil beten), aber diese Aufgabenverteilung soll als das Resultat diverser Eroberungsfeldzüge zustande gekommen sein. Die Bauern seien die indigenen Gallier gewesen, ihnen beigesellt die Eindringlinge der fränkischen Kriegeraristokratie, schließlich die Angehörigen der ehemaligen gallischen Kriegeraristokratie, die als Kirchenleute in der institutionellen Hohlform überwintern, welche die ersten, die römischen Kolonisatoren, zurückgelassen hatten.

Wenn dann die Ständegesellschaft zum Ziel der Attacken des Bürgertums wird, kommen zwei Dinge zusammen, die man für gewöhnlich säuberlich voneinander trennt: Zunächst einmal haben wir den »frühreifen politischen Kampf des Bürgertums gegen die absolutistische Monarchie einerseits und die Aristokratie andererseits«, eine scheinbar rein innenpolitische Angelegenheit, die dann aber umkodiert wird zu der außenpolitischen Frage einer Invasion: »Bewußtsein der Spaltung aufgrund der historischen Tatsache der Eroberung«, die »seit Jahrhunderten bis in weite Bevölkerungsschichten hinein sehr lebendig war«. Der antiaristokratische, der antiabsolutistische Kampf: ein antikolonialer Kampf. Zu allem Überfluss auch noch ein protorassistischer Kampf.

Lob des Rassenkriegs?

Natürlich leugnet Foucault nicht, dass der Kolonialismus des 19. Jahrhunderts rassistisch legitimiert wurde. Er sagt sogar: »Der Rassismus entwickelte sich zunächst mit der Kolonisierung, d.h. dem kolonisatorischen Völkermord.«4 Doch zugleich behauptet er, dass es der Antikolonialismus des 16. und 17. Jahrhunderts war, der den Begriff der »Rasse« überhaupt aufs Tapet brachte.

Das Konzept »Rasse« wird Foucault zufolge als antikoloniales Bollwerk ins Leben gerufen. Der Diskurs des Rassenkampfs war »lange ein Diskurs der Oppositionen, der verschiedenen oppositionellen Gruppen; sehr schnell weitergereicht, wurde er zum Instrument der Kritik und des Kampfes gegen eine Form der Macht, die gleichwohl unter verschiedene Feinde und verschiedene Formen der Opposition gegen diese Macht aufgeteilt war. In seinen unterschiedlichen Formen dient er eben sowohl dem radikalen Denken in der Zeit der englischen Revolution des 17. Jahrhunderts wie nur wenige Jahre später, kaum verändert, der Reaktion der französischen Aristokratie gegen die Macht Ludwigs XIV. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts verband er sich sicherlich mit dem postrevolutionären Projekt, endlich eine Geschichte zu schreiben, deren wahres Subjekt das Volk wäre. Und wiederum einige Jahre später diente er der Disqualifizierung der kolonisierten Unterrassen.«

Doch vor diesem schmählichen Ende wäre er der historisch erste Gegendiskurs gewesen, weshalb Foucault daran gelegen sein kann, »den Diskurs des Rassenkrieges durchaus lobend hervorzuheben. Lobend in dem Sinn, als ich Ihnen gerne gezeigt hätte, wie dieser Diskurs des Rassenkriegs zumindest eine Zeitlang – also bis zum Ende des 19. Jahrhunderts, bis zu dem Zeitpunkt, da er in einen rassistischen Diskurs umschlägt – als Gegen-Geschichte funktioniert hat.« Ein Lob des Rassenkriegs aus dem Mund Foucaults? Ich weiß nicht, ob es das besser macht, doch wenn er vom Rassenkrieg spricht, dann spricht er nicht zuletzt vom Konflikt mit dem Ancien Régime.

Foucaults Punkt ist nicht das heute vertraute Mantra, dass sich hinter der formalen Gleichheit der Französischen Revolution stillschweigende sexistische, klassistische und eben auch rassistische Ausgrenzungspraktiken verbargen, sondern dass diese Revolution auf eine ganz und gar nicht untergründige Weise rassistisch war, dass sie sich lauthals und offensiv gegen eine bestimmte Rasse richtete, jene, als die die Aristokratie angesehen wurde. Dieser spezielle antikoloniale Kampf ist Foucault zufolge also nicht nur nicht antirassistisch gewesen, er vollzog sich im Gegenteil ausdrücklich als »Rassenkampf«. Kein Rassenkampf zum Zweck der Legitimierung einer Invasion, sondern zum Zweck der Delegitimierung einer Invasion; keiner, der auf Unterwerfung abzielt; stattdessen einer der Unterworfenen; keiner gegen die unterdrückten Minderheiten, aber einer gegen eine unterdrückende Minderheit. Foucault paraphrasiert dessen Devise so: »Wir sind vielleicht erobert worden, aber wir werden es nicht immer bleiben. Wir sind hier zu Hause und ihr werdet weggehen.«

Die bürgerliche Revolution als Remigration? Noch in Was ist der Dritte Stand?, dem berühmten Pamphlet des Abbé Sieyès am Vorabend der Französischen Revolution, wird die Revolution als Abwehrkampf gegen die fremden Eindringlinge von der anderen Rheinseite verstanden: »Warum sollte er [der Dritte Stand] nicht alle diese Familien in die fränkischen Wälder zurückschicken, die den tollköpfigen Anspruch weiterpflegen, sie seien dem Stamm der Eroberer entsprossen und hätten Eroberungsrechte geerbt?« Es sollte dasselbe sein: sich des Königs und Adels zu erwehren und die Germanen in ihre Wälder zurückzutreiben.

Und womöglich war die Französische Revolution nur der letzte und zugleich der markanteste einer ganzen Reihe von Versuchen, sich der fränkischen Besatzungsmacht zu entledigen: »Die Kreuzzüge als großer Weg ins Jenseits sind für Boulainvilliers der Ausdruck und die Manifestation dieser vollständigen Zuwendung des Adels zur jenseitigen Welt; was freilich geschah im Diesseits, auf ihren Ländereien, als sie in Jerusalem weilten? Der König, die Kirche und die alte gallische Aristokratie veränderten die lateinischen Gesetze, dank welcher sie ihrer Länder und ihrer Rechte enthoben werden sollten.«

Wenn das stimmt, dann müssten die Kreuzzüge jedenfalls in ganz anderer Weise als ein koloniales Unternehmen verstanden werden, als man heute anzunehmen gewillt ist. Die fränkischen Invasoren wurden von der »indigenen Bevölkerung« der Gallier ausgetrickst. Die gallischen Aristokraten, die die Besatzungszeit als Kirchenleute überstanden, erzogen die fränkischen Barbaren zu christlichen Rittern und schickten sie nach Jerusalem, um sich in deren Abwesenheit auf subtile Art und Weise durch juristische Winkelzüge ihr angestammtes Land zurückzuholen.

Genealogie der Genealogie

»Wie, ab wann und warum fing man an, sich vorzustellen, daß es der Krieg ist, der unterhalb und innerhalb der Machtbeziehungen funktioniert?« Anders gefragt: Wer war, bevor es Foucault gab, »Foucault«? Die Leitfrage der Vorlesung. Foucault legt in diesem Buch eine Genealogie der Genealogie selbst vor, und diese Genealogie erweist sich als antikolonial. Beinahe hätte die Vorlesung ein perfektes Gib und Nimm ergeben: Die heutigen postkolonialen Theoretiker, die nahezu alles Foucault verdanken (die genealogische Aufdeckung der dunklen Gewaltgeschichte hinter der legitimatorischen westlichen Selbstbeweihräucherung), wären in dieser Vorlesung auf einen antirömischen, einen antijuridischen Foucault gestoßen, der seinerseits alles bestimmten antikolonialen Theoretikern der Vergangenheit verdankt.

Das hätte einen vollkommenen Kreis ergeben, doch beim Durchgang durch diesen Kreis nimmt Foucault eine Reihe immer problematischerer Identifizierungen vor: Es mag ja noch angehen, zu entdecken, dass der erste Gegendiskurs als Gegengeschichte firmierte (der »erste historisch-politische Diskurs über die Gesellschaft, der sich von dem bis dahin gepflogenen philosophisch-juristischen Diskurs deutlich absetzt«), genauso, wie es akzeptabel sein mag, dass diese Gegengeschichte offenbar eine Kolonialgeschichte war. Problematischer wird es, wenn diese Kolonialgeschichte ein Diskurs der Rassenkämpfe gewesen sein soll, der den Grundstein für das »rechte Denken« legte: »Er hat nicht mehr den zeremoniellen Charakter der Stärkung der Macht, sondern wird als neues Pathos mit seiner Pracht ein Denken prägen, welches großenteils das rechte Denken Frankreichs sein wird: also zum einen die quasi erotische Leidenschaft für historisches Wissen, zum anderen die systematische Pervertierung einer interpretierenden Intelligenz, zum dritten deren verbissene Denunziation und viertens schließlich die geschichtliche Artikulation von Komplotten, Angriffen gegen den Staat, Staatsstreichen oder Schlägen auf oder gegen den Staat.«

Foucault sagt zwar nicht, dass dieses postkoloniale Denken im rechten Denken verwurzelt sei, aber er sagt, dass das rechte Denken im postkolonialen Denken verwurzelt ist: »In diesem Diskurs vermischen sich zugleich subtiles Wissen und […] grundlegende, schwere und überladene Mythen […], das verlorene Zeitalter der großen Ahnen, der Anbruch neuer Zeiten und tausendjähriger Rachefeldzüge, die Ankunft des neuen Reiches, welches die alten Niederlagen auslöschen wird […], der Gedanke des immerwährenden Krieges mit der großen Hoffnung auf den Tag der Rache, der Erwartung des Herrschers der letzten Tage, des dux novus, des neuen Anführers, des neuen Führers, der Idee der fünften Monarchie oder des dritten Reiches […], das Thema […] von Karl dem Großen, der in seinem Grab eingeschlafen ist und wieder aufwachen wird, um den gerechten Krieg wieder zu entfachen; jenes der beiden Friedriche, Barbarossa und Friedrichs II., die unter der Erde auf das Erwachen ihres Volkes und Reiches warten.« Das verleiht der Dekolonisation des dekolonialen Diskurses in ihrer linken Variante einen ironischen Dreh: Den dekolonialen Diskurs an seine indigenen Sprecher zu restituieren, hieße, ihn den Rechten zurückzuerstatten. Es hieße auch, diese Diskurse eines hundertjährigen Schlafes aufzuwecken, die man liebend gerne weiterschlafen lassen würde.

Die Frage der Dekolonisierung des Dekolonialen ist Foucaults eigene Frage. Er weiß genau, dass Kolonisierung nicht nur Gegenstand von Diskursen sein kann, sondern dass Diskurse auch Gegenstand von Kolonisierungen sein können. Foucault kann sich im Jahr 1975 sogar vorstellen, irgendwann selbst einmal Betroffener zu sein, wenn er auch für die Gegenwart Entwarnung geben möchte: »Der Zeitpunkt ist noch längst nicht gekommen, an dem wir Gefahr laufen, kolonisiert zu werden.« Wir. Damit meint er in diesem Moment sich selbst, Foucault, der diesen Diskurs hält: »Und besteht nicht zuletzt die Gefahr, daß, sobald die Fragmente der Genealogie offengelegt und diese Wissenselemente, die man zu entstauben versucht hat, zur Geltung und in Umlauf gebracht sind, diese ihrerseits wieder kodiert und durch die einheitlichen Diskurse rekolonialisiert werden?«

Nur, dass er keine Sekunde lang die Kolonisierung durch die Rechte fürchtete, sondern die »von Philosophie und Recht betriebene Kolonisierung und autoritäre Befriedung eines historisch-politischen Diskurses […], der zugleich Feststellung, Ausrufung und Praxis des Gesellschaftskriegs war. Die Dialektik hat diesen historisch-politischen Diskurs kolonisiert, der sich manchmal mit Eklat, manchmal im Halbschatten, manchmal mittels Gelehrsamkeit und manchmal mit Blut seinen Weg durch die Jahrhunderte in Europa gebahnt hat.« Kolonialherrschaft der Dialektik! Doch die Kolonisierung des antikolonialen Diskurses durch Recht und Philosophie verblasst im Lauf der Vorlesungen neben anderen Kolonisierungen. Dieser Diskurs, »der ursprünglich an die Reaktion des Adels gebunden war«, sei »zu einer Art diskursiver Waffe« geworden, die von allen Gegnern innerhalb des politischen Feldes zum Einsatz gebracht werden konnte«.

Nicht erst heute wird der antikoloniale Diskurs von allen möglichen Seiten kolonisiert. Seine Totalbesetzung ist bereits ein Phänomen des 18. Jahrhunderts. Ein Diskurs und seine zahllosen Besatzungsmächte. Deshalb gibt es bei Foucault einen entscheidenden Gegenbegriff zur »Kolonisierung« des antikolonialen Diskurses, nämlich seine »strategische Polyvalenz«: Ein derartiger Diskurs kann »sich von seinem Entstehungsort, eben der Reaktion des Adels zu Beginn des 18. Jahrhunderts, fortbewegen, um zu diesem allgemeinen Instrument aller politischen Kämpfe des ausgehenden 18. Jahrhunderts zu werden«. Es fragt sich, ob es nicht wenigstens einen politischen Kampf gab, für den das nicht zutraf. Wer hätte diesen Diskurs weniger besetzt als ihn abgeschüttelt?

Anders als Sieyès’ zitierter Gedanke von der Revolution als Remigration vermuten lässt, meint Foucault nicht, bei der bürgerlichen Revolution habe es sich lediglich um eine weitere Spielart dieses Diskurses vom »Rassenkrieg« gehandelt. Die bürgerlichen Revolutionäre bedienten sich keineswegs umstandslos dieses »allgemeinen Instruments« des antikolonialen Diskurses. Sie sahen sich eher als eine Art Instrument des Allgemeinen. Sieyès’ Worte wurden oft zitiert: »Was ist der Dritte Stand? ALLES. Was ist der Dritte Stand bis jetzt in der politischen Ordnung gewesen? NICHTS. Was verlangt er? ETWAS ZU SEIN.« Bis heute gehört es zum Standardvorwurf an die Adresse des bürgerlich-liberalen Denkens, unter dem Deckmantel universaler Ansprüche partikuläre Interessen zu vertreten.

Allerdings geht dies am entscheidenden Punkt vorbei, dass hier eine partikulare Gruppe für einmal beabsichtigte, tatsächlich für das Universelle selbst einzustehen. Mag sein, dass dieses Vorhaben scheiterte, entscheidender dürfte sein, dass es überhaupt in Angriff genommen wurde. Eine neue Art der Frage wurde virulent: »Wer übernimmt in der Gegenwart das Universelle? Was ist in der Gegenwart die Wahrheit des Universellen?« Es handelte sich, so Foucault, um ein »neues Verhältnis des Partikularen zum Universellen«, nämlich die »genaue Umkehrung« des Diskurses der Adelsreaktion.

Der Unterschied zwischen den revolutionären Bürgerlichen und dem reaktionären Adel hätte darin bestanden, dass Erstere vielleicht partikular waren, Letzterer partikular sein wollte: Er »entnahm der monarchischen Einheit ein einzelnes Recht, das von Blut getränkt war und vom Sieg bestätigt wurde: das besondere Recht der Adligen«. Und es ging ihm um die »Herauslösung dieses besonderen Rechts aus der Gesamtheit des Gesellschaftskörpers und seinen Einsatz in seiner Besonderheit.« Die Aristokraten nahmen ein besonderes Recht in Anspruch, das zugleich ein Recht der Stärke war (von Blut getränkt, vom Sieg bestätigt).

Ganz anders die Situation des Dritten Standes, dessen Recht dezidiert kein Recht des Stärkeren ist, aus dem einfachen Grund, dass er die Stärke hatte, nicht aber das Recht: Man meinte, bereits alle substantiellen Funktionen des Staates übernommen (kolonisiert?) zu haben; man schätzte, bereits zu neun Zehntel die Armee, die Justiz, die Verwaltung, die Kirche, das Handwerk, den Handel und die Landwirtschaft besetzt zu haben. Was einzig fehlte, war der der substantiellen Realität entsprechende formale Status: »Jene Leute sind in gewisser Weise im Besitz der substantiellen und funktionalen Elemente der Nation, jedoch nicht im Besitz der formalen Elemente.«

Doch das Recht, das einem damit verwehrt ist, ist im wahrsten Sinne des Wortes zur damaligen Zeit niemandes Recht. Wenn Sieyès sagt, dass man »für eine Nation zwei Dinge braucht: ein gemeinschaftliches Gesetz und eine gesetzgebende Versammlung, wenn es um einen Rechtsstaat geht«, dann wird hier auf eine gänzlich neuartige Weise Exklusion gedacht. Der Dritte Stand ist exkludiert, ja, aber wovon? Von einer primär rechtlich verstandenen Nation, die so noch gar nicht existiert und deshalb aber auch noch nicht kolonisiert worden sein kann, die von niemandem in Beschlag genommen ist.

Das im eigentlichen Sinn postkoloniale Projekt wird deshalb darin bestehen, den Abstand zu überbrücken, der zwischen der eigenen substantiellen Stärke besteht und dem Ausgeschlossensein aus einem Gebilde, das erst noch zu errichten ist: »Übergang vom Virtuellen zum Realen, der Übergang von der nationalen Totalität zur Universalität des Staates«. Den dekolonialen Diskurs dekolonisieren? Wenn das die Wahl impliziert, ihn von allen möglichen illegitimen Besetzern freizuhalten oder sich von der Besetzung durch den dekolonialen Diskurs freizumachen, dann ist das genau das Entweder-Oder Foucaults: Wir können entweder die Geschichte des »zerrissenen Anfangs« erzählen (hinter der täuschend ruhigen Oberfläche der Gegenwart die untergründigen Rassenkämpfe zwischen Kolonisatoren und Kolonisierten) oder aber die Geschichte der totalisierenden Vollendung in der Gegenwart: »Grob gesagt wird das dem ersten Raster zugestandene Erkenntnisprimat – jenes des zerrissenen Anfangs – eine Geschichte ergeben, die man, wenn Sie so wollen, reaktionär, aristokratisch, rechtsgerichtet nennen wird. Das dem zweiten zugestandene Privileg – das gegenwärtige Moment der Universalität – wird eine Geschichte liberalen oder bürgerlichen Typs ergeben.«

Man hätte glauben können, es sei rechts, den dekolonialen Diskurs abschütteln zu wollen; links, ihn seinen angestammten Sprechern zurückerstatten zu wollen. Aber es ist genuin rechts, eine Invasion von außen ausfindig machen zu wollen, in das Eigene, das man immer schon besessen haben möchte, wohingegen höchstens dann, wenn wir den dekolonialen Diskurs abgestreift haben, »die Gegenwart zum vollen Moment wird, zum Moment der größten Intensität, zu dem feierlichen Moment, in dem sich der Eintritt des Universellen in das Reale vollzieht«.

1

Onur Erdur, Schule des Südens. Die kolonialen Wurzeln der französischen Theorie. Berlin: Matthes & Seitz 2024.

2

Michel Foucault, In Verteidigung der Gesellschaft. Vorlesungen am Collège de France 1975/1976. Aus dem Französischen von Michaela Ott. Frankfurt: Suhrkamp 1999. Soweit nicht anders ausgewiesen, sind alle Zitate diesem Text entnommen.

3

Vgl. Klaus Rosen, Die Völkerwanderung. München: Beck 2002 (insbesondere Kapitel X).

4

Hervorhebung im Original.

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