Heft 901, Juni 2024

Das philosophische Unbewusste

Der neue Foucault von Christoph Paret

Der neue Foucault

Überraschend ist schon die schiere Existenz dieses Buchs. Beim legendären vierten Band von Sexualität und Wahrheit wusste man, dass er fertig in der Schublade gelegen hatte. Dagegen hatte niemand geahnt, dass Michel Foucault im Jahr 1966, wenige Monate nach der Veröffentlichung der Ordnung der Dinge, es auf dem Familiensitz in Vendeuvre-du-Poitou in Angriff nimmt, den Diskurs der Philosophie zu schreiben.

Warum hat es Foucault unterlassen, das immerhin zusammenhängende Manuskript zu veröffentlichen oder wenigstens die Arbeit daran fortzusetzen? Die bislang bekannten Schriftlichkeiten geben kein größeres inneres Drama zu erkennen. Fürchtete er den naheliegenden Vergleich mit Derridas 1967 veröffentlichter Grammatologie? Wollte er keinen Anlass zu einer neuerlichen Debatte mit Derrida geben, wie sie sich an Wahnsinn und Gesellschaft entzündet hatte? Oder hatte er den Eindruck, sich mit diesem Projekt zu weit aus der Deckung zu wagen?

Jedenfalls sollte er mit diesem Buch das schützende Halbdunkel verlassen, das sein ungeklärtes Verhältnis zur Philosophie bildete, die in Ordnung der Dinge mal mit distanzierenden Gesten bedacht worden und mal der Raum war, in den er sich ausdrücklich stellt. Oder aber musste hier ein Buch in den Giftschrank, in dem sich vieles, was er im Fortgang schreiben sollte, bereits eingeordnet, ja, verurteilt findet?

Wenn die folgenden Zeilen ein verstecktes Selbstporträt sein sollten, so tragen sie unverkennbar abschätzige Züge: »Philosophieren heißt von nun an nicht mehr, in einem singulären und auf alle anderen irreduziblen Modus zu sprechen, sondern im Raum und in der Form anderer Diskurse zu sprechen, indem man sich hinterrücks in den Ort einschleicht, von dem aus sie sprechen: Hier wird der Philosoph zum Philologen, Historiker, Genealogen, ›Psychologen‹, Analytiker des Lebens und der Kraft.«

Königsklasse

Die zweite Überraschung bildet die schiere Ambition des Projekts: Versucht wird »die Deduktion der gesamten abendländischen Philosophie allein aus dem Modus ihres Diskurses«. Es gäbe also eine Einheit der Philosophie, und was sie garantieren würde, wären keine ursprüngliche Erfahrung, keine übergreifenden Begriffe, keine gemeinsamen Probleme, keine Tradition, keine sich durchhaltenden Erkenntnisgegenstände, keine Haltung, und übrigens auch keine Form der Macht.

Kann es gelingen, die umfassenden Vorhaben von Descartes, Leibniz, Hume, Kant, Fichte, Hegel, Nietzsche, Husserl und Jaspers auf demselben Plateau unterzubringen? Wie die allgemeinen Bestimmungen jeder Philosophie, ihre Themen, ihre einzelnen Werke aus rein diskursiven Erfordernissen ableiten? Lässt sich die Philosophie, die den allgemeinen Zugang für sich reserviert zu haben scheint, einer nochmal allgemeineren Beschreibung unterziehen?

Bislang hatte man von einem solchen Projekt schon mit dem bloßen Verweis absehen können, dass nicht einmal der Begründer der Diskursanalyse so verwegen gewesen war, Derartiges in Angriff zu nehmen. Jetzt wissen wir es besser: Foucault hat es versucht. Das Buch ist das erste, wenn nicht einzige Beispiel eines Genres, das in den kommenden Jahren Lust auf Parallelaktionen machen könnte.

Diskursive Trennkost

Foucault soll ja, ob im besten oder schlimmsten Sinn, ein unreiner Denker sein. Bei ihm würden die Grenzen zwischen Philosophie und Geschichtswissenschaft, zwischen Philosophie und Literatur aufs Bedenklichste oder Bedenkenswerteste verschwimmen. Doch ebendieser Foucault behauptet hier, dritte Überraschung, die Existenz separater Diskurse, die nicht aufeinander reduzibel wären: Diskurs der Wissenschaft, Diskurs der Fiktion, Diskurs der Religion, Diskurs des Alltags, schließlich – und vor allem – Diskurs der Philosophie (spät im Buch und ziemlich beiläufig wird im Zusammenhang mit Nietzsche auch von einem Diskurs der Politik die Rede sein).

Man wartet geradezu darauf, dass die Foucaultianer Posten beziehen, um die Leser möglichst schnell an diesem Buch vorbeizuleiten: »Gehen Sie bitte weiter, hier gibt es nichts zu sehen!« Die Behauptung eigenständiger Diskurse, die auch noch ihre ganze Gültigkeit aus der Tatsache ihrer Separation beziehen, hätte man zuallerletzt von jemandem erwartet, der in dem Buch, das 1969 anstelle von Diskurs der Philosophie erscheint, süffisant feststellt: »Man muß auch angesichts jener Unterteilungen und Gruppierungen unruhig werden, die uns vertraut geworden sind. Kann man ohne weiteres die Unterscheidung der großen Diskurstypen oder jene der Formen oder Gattungen zugeben, die Wissenschaft, Literatur, Philosophie, Religion, Geschichte, Fiktion usw. in Opposition zueinander stellen und daraus Arten großer historischer Individualitäten machen?«

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