Heft 911, April 2025

Foucault bei den Galliern

Die Dekolonialisierung des dekolonialen Diskurses von Christoph Paret

Die Dekolonialisierung des dekolonialen Diskurses

Auf einmal geben sich alle de- und antikolonial: die Länder des globalen Südens, die Palästinenser, die Ukraine in ihrem Abwehrkampf, sogar Russland und China, die behaupten, sich einer westlichen Hegemonie zu erwehren und sich anschicken, die »US-amerikanischen Kolonien« namens Ukraine und Taiwan zu befreien. Die entschiedenste antikoloniale Kraft Deutschlands? Es ist – die Wirklichkeit erzählt sich die schlechtesten Witze noch immer selbst – die AfD in ihrem wackeren antikolonialen Mehrfrontenkampf: gegen den militärischen Kolonialismus der USA, den bürokratischen Kolonialismus der EU, den medialen Kolonialismus der Öffentlich-Rechtlichen, den demografischen Kolonialismus muslimischer Einwanderer und schließlich gegen den akademischen Kolonialismus der Universitäten, insbesondere die Kolonisierung durch die Postcolonial Studies.

Zugegeben, nicht immer fällt es leicht, zwischen eingebildeten und echten Kolonisierten zu unterscheiden: Die selbsterklärten antikolonialen Kämpfer – sind sie besetzt oder doch nur besessen? Das eigene Kolonisiertsein erweist sich aber nicht nur bisweilen als Selbsttäuschung, sondern auch als Selbstdarstellung: Glaubt man, dass man okkupiert ist, oder will man es andere glauben machen? Der Verweis auf eine reale oder imaginäre Besatzungsmacht hilft, Anhänger zu rekrutieren. Falls umgekehrt momentan noch irgendwo Imperien gebildet werden (China?), vollzieht sich das so geräusch- und programmlos wie nie zuvor in der Geschichte: ein Imperialismus auf Taubenfüßen.

Demgegenüber bildet die Antikolonialität den Generalnenner noch der feindseligsten Positionen. Doch das verleiht der antikolonialen Stoßrichtung nur eine zusätzliche Rechtfertigung: Je mehr man sich kolonisiert vorkommt, desto eher wird man geneigt sein, die Emanzipation von außen zu erhoffen – was wiederum auf andere so wirken kann, als würden nur neuerliche Kolonisatoren eingeladen.

Die Rechte, die sich vom öffentlich-rechtlichen Rundfunk und der »Wokeness« kolonisiert fühlt, kann ihre Rettung in einem Musk erblicken, der die Plattform X aufkauft und ihre Rede in die Freiheit entlässt, aber aus Sicht der Gegenpartei den öffentlichen Diskurs kolonisiert. Wer nicht glauben mag, dass Deutschland 1945 befreit wurde (»Sklavenstaat«), wird den Blick hoffnungsvoll auf jenes Russland richten, das neokolonialer Ambitionen nicht gerade unverdächtig ist.

Dann gibt es noch die leider nur Postkolonialen, die den antikolonialen Kämpfen der Fünfziger und Sechziger hinterhertrauern und sich auf den vermeintlich letzten verbliebenen antikolonialen Kampf stürzen: den palästinensischen Widerstand, womit sie sich an die Seite von Demonstranten stellen, die andere wiederum als Kolonisatoren identifizieren: die islamistischen Horden auf unseren Straßen.

Generelle Regel: Des einen Befreier ist des anderen Kolonist. Es kommt im dekolonialen Zwielicht zu den seltsamsten Allianzen: Ein Amerika, das nicht mehr imperial und nur noch nationalistisch sein will, wendet sich gerade deshalb mit großer Freundlichkeit einer amerikafeindlichen Partei zu. Ami, go home? Ja, nichts lieber als das. Deshalb führt Elon Musk auf dem AfD-Parteitag einen antikolonialen Diskurs, wenn er dazu auffordert, die olle Kamelle der »vergangenen Schuld« ruhen zu lassen, um sich auf den letzten Schrei deutscher Antikolonialität zu besinnen: den »Kampfeswillen der germanischen Stämme«, der immerhin bereits den Kolonisator Julius Cäsar beeindruckt habe.

Man merkt schon: Lange Zeit war der dekoloniale Diskurs nur positiv besetzt, mittlerweile ist er einfach nur noch besetzt, und zwar von allen möglichen politischen Seiten. Es ist längst viel zu einfach geworden, dekolonial zu sein. Jetzt müsste man zumindest metakolonial werden, wenn denn nicht die heutige Aufgabe lautet: Dekolonialisiert den dekolonialen Diskurs!

Eine derartige Devise kann allerdings nach rechts und nach links gewendet werden, je nachdem, ob man glaubt, dass einen der dekoloniale Diskurs okkupiert oder dass dieser Diskurs okkupiert wird. Das ist die rechte Version: »Befreit euch vom Imperialismus der postkolonialen Studien! Erhebt euch gegen die Invasion des dekolonialen Diskurses, der aus angelsächsischen Eliteuniversitäten stammt, und mag er sich noch so kritisch gegen das ›westliche Denken‹ wenden! Durchschaut seine Tricks: Man kolonialisiert euch, indem man euch einredet, dass ihr die Kolonialherren wart.«

In der linken Variante hat die Dekolonisierung der Dekolonialität folgendes Aussehen: »Restituiert den postkolonialen Diskurs! Gebt ihn seinen angestammten Sprechern zurück! Gesteht ein, dass ihr fremdes Gebiet für euch beansprucht, wenn ihr euch anti- und dekolonial aufführt. Die kulturelle Aneignung der Dekolonisierung muss rückgängig gemacht werden, der dekoloniale Diskurs muss seinen indigenen Sprechern zurückerstattet werden!«

Diese saubere Rechts-links-Unterscheidung bräche allerdings zusammen, sollte sich herausstellen, dass der antikoloniale Diskurs den Grundstein für die Rechte überhaupt erst gelegt hat, er also in allererster Linie der Rechten zurückerstattet werden müsste, und dass umgekehrt diejenigen, die sich zunächst einmal aus ihm herausgearbeitet haben, gerade dadurch erst bürgerlich wurden anstatt rechts.

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