Die Gesellschaft des Suspense und der Katechon der Ökologie
von Christoph ParetWer jetzt noch schreibt, der schreibt angesichts der drohenden erneuten Wahl Trumps, des sich abzeichnenden Aufschwungs der AfD, des möglichen Überfalls Chinas auf Taiwan, des bevorstehenden Kippens des Golfstroms, des Durchbrechens der Zwei-Grad-Marke, vor dem sechsten Artensterben, vor der nächsten Belastungsprobe der Europäischen Union, vor der technologischen Singularität. Es bleibt also noch ein klein wenig Zeit. Zeit zum Verzögern, Zeit, sich zu wappnen, aber auch Zeit, sich zu wundern: Gab es vor uns schon einmal eine Gesellschaft, die sich so unsicher war, ob sie ungeschoren davonkommen kann, und zugleich so sicher, welche Gestalt ihre Katastrophen annehmen werden?
Wenn schon etwas schiefläuft, dann bitteschön drehbuchgemäß, als dürfe uns nichts anderes zum Verhängnis werden als das, vor dem wir gewarnt wurden. Die schlimmsten Geschehnisse mögen eintreten, aber sie sollen uns nicht mehr entlocken als ein »Das überrascht mich wenig.« Unser Platz in den Geschichtsbüchern? Unter der Rubrik »Chronik eines angekündigten Untergangs«. Das ist auch eine Form der Ambition: Noch dann, wenn einem der Boden unter den Füßen wegbricht, sagen zu können, dass man nicht auf dem falschen Fuß erwischt wurde. Als wären wir vor guten wie vor bösen Überraschungen gefeit, während wir uns in die halb resignative, halb überzogene Erwartung schicken, dass sich für uns lediglich Katastrophen mit Ansage bewahrheiten: wir gutinformierten Untergänger.
Bombe unter dem Tisch
Vorbei die Zeiten, als die Möglichkeit des inkalkulablen Ereignisses im Zentrum des Denkens stand, eines Ereignisses, das nur insofern eines war, als es das Unmögliche wahr werden ließ. Es könne sein, schrieb Jacques Derrida, »daß einzig das Stattfinden des Ereignisses nachträglich, vielleicht, das zu denken erlaubt, wodurch es zuvor möglich wurde«. So wundersam würde dieses Ereignis also sein, das sich erst im Zuge seiner Realisierung seine Möglichkeit mitverwirklichte. Nun sieht es jedoch so aus, als wären wir kollektiv in einen Hitchcock-Film versetzt worden. Dort gilt nicht die Logik der Überraschung, sondern des Suspense.
Der Altmeister des Kinos hat dazu bereits alles Nötige mitgeteilt: »Wir haben eine ganz gewöhnliche Unterhaltung, nichts Besonderes passiert, und plötzlich, bumm, eine Explosion. Das Publikum ist überrascht, aber die Szene davor war ganz gewöhnlich, ganz uninteressant. Schauen wir uns jetzt den Suspense an. Die Bombe ist unterm Tisch, und das Publikum weiß es […] Das Publikum weiß, daß die Bombe um ein Uhr explodieren wird, und jetzt ist es 12 Uhr 55 – man sieht eine Uhr. Dieselbe unverfängliche Unterhaltung wird plötzlich interessant, weil das Publikum an der Szene teilnimmt. Es möchte den Leuten auf der Leinwand zurufen: Reden Sie nicht über so banale Dinge, unter dem Tisch ist eine Bombe, und gleich wird sie explodieren! Im ersten Fall hat das Publikum fünfzehn Sekunden Überraschung beim Explodieren der Bombe. Im zweiten Fall bieten wir ihm fünf Minuten Suspense. Daraus folgt, daß das Publikum informiert werden muß, wann immer es möglich ist.«
Damit wären die Grundmerkmale unserer Lage versammelt: Die tickende Zeitbombe, die uns bereits hier in dem mittlerweile Klischee gewordenen »fünf vor zwölf« begegnet (in Hitchcocks Beispiel ist es allerdings bereits fünf vor eins); eine aktuelle Ereignislosigkeit in Form des ungetrübten Smalltalks, die umso nervenaufreibender ist, als das Gespräch unbeirrt vor sich hinplätschert und keine wirksamen Gegenmaßnahmen ergriffen werden; der Umstand, dass der Suspense mit dem Grad der Informiertheit steigt; die Tatsache, dass Suspense Unterhaltung ist und anprangert: So unerträglich die harmlose Unterhaltung und die ausbleibenden Anstrengungen, die Katastrophe aufzuhalten, dem wissenden Beobachter auch vorkommen mag, so unterhaltend ist das doch zugleich. Schließlich die Ökonomie der Situation: Mit der Technik der Überraschung deckt man allenfalls fünfzehn Sekunden ab, im Suspense kann man sich potentiell endlos aufhalten. Latour hatte bereits über das Anthropozän vermerkt: »Was auch immer man tut, die Bedrohung schwebt über uns für Jahrhunderte, wenn nicht für Jahrtausende«. Man möchte ergänzen: bestenfalls.
Vorübergegangene Kelche
Nicht einmal die größten Optimisten scheinen unter den gegenwärtigen Bedingungen weiterreichende Ambitionen zu haben, als abzuwenden, was droht: dass uns nur ja nichts passiert. Wenn noch eine gewisse Aussicht darauf besteht, dass 2024 wider Erwarten ein gutes Jahr wird, dann allenfalls durch das, was in ihm dann doch nicht geschehen wird. Auch Jahrhundertprojekte sollen sich in der Sorge erschöpfen, dass es zu einem CO2-Ausstoß erheblichen Ausmaßes doch nicht kommt, man die Rate der Auslöschung der Arten verlangsamt, den Energieverbrauch pro Kopf reduziert.
Wie kommt es, dass keine anderen Geschehnisse vorstellbar sind als drohende? Warum gibt es kein größeres Vorhaben als deren Verhinderung oder auch nur Vertagung? Und wie von dem speziellen Glück erzählen, das uns als Möglichkeit immerhin geblieben scheint, dem Glück der Kelche, die an einem vorübergehen? Titel der Autobiografie eines Glückspilzes aus der Zukunft: Was mir erspart geblieben ist.
Es versteht sich, dass man derlei Fragen und Anmerkungen ohne jeden polemischen Unterton formulieren wird. Hier polemisch zu sein, würde etwas erfordern, was immer weniger denkbar zu sein scheint: dass man dem ewigen Aufschub noch ein Projekt entgegenzusetzen wüsste; dass man der Kategorie unliebsamer Vorkommnisse, mit denen man rechnet, jene Klasse unkalkulierbarer Ereignisse entgegenhalten könnte, die die Theologen »Wunder«, bestimmte Juristen »Ausnahmezustand«, die Poststrukturalisten »Ereignis« nannten. Derartiges scheint unabwendbar seine intellektuelle Plausibilität eingebüßt zu haben. Aber warum? Vielleicht wird man darin einmal die eigentliche Lektion der sogenannten Erdsystemwissenschaften erblicken: weniger in der ein oder anderen Warnung, sondern in dem erstaunlichen Gedanken, dass in der »Biografie unseres Planeten« schon immer vornehmlich jene Ereignisse einzutragen waren, um die die Erde herumgekommen war.
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