Heft 916, September 2025

»Verstrickt in das Netz der eigenen Linien«

Hedwig Thuns Roman über Engelbert Kämpfer von Christian Wiebe

Hedwig Thuns Roman über Engelbert Kämpfer

1937 fand die erste große »Engelbert-Kämpfer-Ehrung« statt. Die Stadt Lemgo feierte den Asienreisenden, Naturforscher, Arzt und Geografen, der hier 1651 geboren wurde. Der Aufwand war beträchtlich, das mediale Echo – jedenfalls in Westfalen und Lippe – gewaltig. Und die nationalsozialistische Propaganda fand reichlich Futter: »Fahnen, Grünschmuck und strahlende Sonne hießen am Sonnabend die Gäste der schönen alten Stadt willkommen. Vor dem Geburtshaus Engelbert Kämpfers in der Papenstraße marschierten in den ersten Vormittagsstunden Ehrenabordnungen der nationalsozialistischen Formationen mit Fahnen und Musik auf […] Nach Erscheinen des Gauleiters nahm Kreispropagandaleiter Studiendirektor Betz (Detmold) das Wort zu einer kurzen Festansprache. Jedes Volk – führte er u.a. aus – müsse stolz sein auf seine Geschichte, auf seine Männer und ihre Taten.«

Die Veranstaltung war von Beginn an unter der Ägide der NSDAP geplant und wurde als solche angekündigt. Der Gauleiter Alfred Meyer schickte zum glanzvollen Abschluss der mehrtätigen Veranstaltung Telegramme an den Reichsleiter Alfred Rosenberg, den Reichsführer SS Heinrich Himmler und den »Führer«. Dieses Telegramm wurde zum Beispiel in der Lippischen Staatszeitung wiedergegeben – und die Verbindung der Kämpfer-Ehrung zur Ideologie der NSDAP könnte kaum deutlicher gemacht werden als mit einem »Ich glaube in Ihrem Sinne zu handeln« in diesem Telegramm.

Die nationalsozialistische Vereinnahmung Engelbert Kämpfers in Lemgo ist längst umfangreich aufgearbeitet worden, am besten vielleicht mit Bezug auf das so genannte Hexenbürgermeisterhaus, das heute wieder zum Besuch einlädt. Anlässlich der »Ehrungen« wurde in dem Gebäude ein neues, vergrößertes Heimatmuseum eingerichtet, mitsamt einem Engelbert-Kämpfer-Zimmer. Verständlich, dass man sich in Lemgo nach 1945 zunächst schwer tat mit Engelbert Kämpfer und seinem Gedenken.

Nun findet sich wieder ein Raum in dem Gebäude, der dem berühmten Sohn der Stadt gewidmet ist, nicht mehr im Erdgeschoss, wo 1937 zum allerersten Mal ein Arbeitszimmer für ihn entstand, sondern im ersten Stockwerk. Als ich für meine Recherchen dort die kleine Kämpfer-Ausstellung besuchte, war ich beeindruckt, vor allem von den gezeigten Japanischen Riesenkrabben. Das Wörtchen »Krabbe« führt auf eine falsche Spur, an Krabbenbrötchen ist hier nicht zu denken, »riesig« ist schon ganz richtig. Kämpfer brachte »ein Beinstück mit nach Europa«, wie ich auf der Tafel erfahre, die am Kasten, in dem sich die konservierten Tiere befinden, angebracht ist. Der wissenschaftliche Name der Riesenkrabbe erinnert an ihn: Macrocheira kaempferi.

Kämpfer ist nicht bloß in Lemgo präsent und im Namen einer Krabbe: Die Forschung der Frühen Neuzeit hat sich dem Asienreisenden längst zugewandt. Ein Name fehlt allerdings in diesen Zusammenhängen, sowohl in den zeitgenössischen Berichten über die Kämpfer-Ehrungen als auch in der Forschung zu Kämpfer oder der Ausstellung in Lemgo: Hedwig Thun, Malerin und Schriftstellerin, die 1931/32 noch eine kurze Zeit bei Kandinsky, Klee und Albers am Bauhaus studiert hatte, deren Bilder in dieser Zeit in New York ausgestellt wurden, die nach dem Zweiten Weltkrieg als Malerin des Informel reüssierte, nachdem sie 1945 in ihre Geburtsstadt Detmold zurückgekehrt war, weshalb ein Hinweis im Heimatmuseum Lemgo – keine fünfzehn Kilometer entfernt – naheliegend wäre.

Thun veröffentlichte 1935 den Roman Der Medicus Engelbert Kämpfer entdeckt das unterhimmlische Reich. Und damit beginnen die Verwicklungen. Der Roman, der unter dem Pseudonym H. S. Thielen publiziert wurde, erschien zuerst beim renommierten Verlag Paul List in Leipzig in mehreren Auflagen und schon 1937 bei der Deutschen Buch-Gemeinschaft in Berlin: Das Buch hatte Erfolg. Doch als die nationalsozialistische Propaganda in dieser Zeit Kämpfer entdeckt, tritt es kaum noch in den Medien in Erscheinung. Bei Paul List wurden in den 1930er Jahren viele Romane und Darstellungen zu historischen Persönlichkeiten veröffentlicht, aber auch kritische oder subversive Texte, wie die Novellen von Stefan Andres. Trotzdem konnte der Verlag sogar während des Zweiten Weltkriegs weiterarbeiten. Bei Paul List unterzukommen, ist in den 1930ern zunächst keine politische Positionierung.

Zu Hedwig Thun hat die Forschung erst begonnen, Ann-Catherine Weise verfasst momentan die erste Dissertation über Thuns künstlerisches Werk, das nach deren Tod im Jahr 1969 aus der Öffentlichkeit verschwand. Eine Ausstellung im Kunstforum Hermann Stenner 2022 kann als Neustart der Auseinandersetzung gewertet werden. Die Bilder sind imposant, der dazugehörige Katalog, zu dem unter anderem Weise einen sehr lesenswerten Beitrag verfasst hat, fängt die Vielgestaltigkeit und Farbigkeit großartig ein. Diese Ausstellung weckte mein Interesse an Thun, deren Namen ich vorher nie gehört hatte, und besonders an ihrem Roman, der von Christiane Heuwinkel in ihrer Einführung zum Katalog wie folgt eingeordnet wird: »Thun entzog sich der NS-Gegenwart, indem sie sich mit dem Arzt und Forschungsreisenden Engelbert Kaempfer (1651–1716) befasste.« Und Thuns Beschäftigung mit dem »weltoffenen Forscher« dürfe »wohl als deutlicher Kommentar zur faschistischen Gegenwart verstanden werden«.

Diesen »Kommentar« genauer zu beleuchten könnte sich lohnen, denn der Fall ist ja bedenkenswert: ein deutscher Forscher, der für die NS-Propaganda entdeckt wird, und der Roman einer Künstlerin über diesen Forscher, die 1933 angesichts des nationalsozialistischen Regimes die Malerei (vorübergehend) aufgibt. Leben, Literatur, Politik sind hier eng verwoben; das Politische wird so übermächtig, dass man jeden künstlerischen Ausdruck als Kommentar auf die Zeit verstehen möchte. Das ließe sich möglicherweise weiterdenken, denn woher schließlich mein Interesse, mich jetzt, 2025, mit Thun in den 1930ern zu befassen? Aus einer andauernden Beschäftigung mit Japan entstand das Interesse leider nicht.

Als ich mit der Lektüre von Thuns Roman begann, beschränkte sich mein Wissen über das frühneuzeitliche Japan im Wesentlichen auf die Fernsehserie Shōgun. Als Vorbereitung für den Roman ist die Serie allerdings nicht schlecht, denn beide Werke stellen zu Beginn den einzelnen Europäer ins Zentrum, den die Fremdheit des Landes teilweise überfordert und der zeitweilig in Gefangenschaft gerät. Und wie die Serie ist das Buch packend erzählt und zugleich genauso bemüht, ein authentisches historisches Japan zu zeigen. Der Roman zog mich also an, besonders mit Blick darauf, wie Thun hier ihre Gegenwart kommentiert.

Kämpfer erlebt in Thuns Roman ein Japan, das sich abgeschottet hat, es hat die Isolation von anderen Staaten gewählt. Die holländischen Händler, mit denen Kämpfer nach Japan kommt, leben auf der Insel Deshima (Dejima), die sie nur in Ausnahmefällen verlassen dürfen. Der Weg über die Brücke nach Nagasaki ist streng verboten. Doch Kämpfer ist von Wissensdurst getrieben. Er wählt einen hochgelegenen Standpunkt und beginnt den Ort, zu dem jeder Zugang verwehrt ist, zu zeichnen. Da steht kein Maler des Expressionismus, kein verfemter Künstler, nur wenige Jahre vor der großen Ausstellung der »Entarteten Kunst«, sondern ein Wissenschaftler der Frühen Neuzeit, aber die Analogie drängt sich dennoch auf: »Jetzt sollte seine heimliche Arbeit beginnen.«

Und sie beginnt: »Es ward ihm feierlich zu Sinn, als nun die Gestalten sich oben von ihrem Heiligtum betend verneigten und der Glanz der Morgensonne die blauen, roten und grünen Gewänder der Gläubigen schimmern und leuchten ließ. Dies festhalten können, dachte er und setzte mit schnellen Strichen an, denn hinter ihm war es sonderlich laut geworden. Hätte er des Gelärms geachtet, so wäre er wohl mit heiler Haut davon gekommen. Nun aber erging es ihm wie jedem rechten Zeichner, der, verstrickt in das Netz der eigenen Linien, nur darauf aus ist, das Ganze einzufangen.«

Es deutet sich hier an, was geschehen wird. Kämpfer wird festgenommen. Wie ließe sich das nicht als Kommentar lesen? Das Regime, das den Maler arrestiert, seine Zeichnungen verbietet, keine Freiheit von Kunst oder Wissenschaft kennt.

Die Unfreiheit schildert Thun später im Roman noch anhand anderer Situationen. Die medizinischen Kenntnisse, die Kämpfer als Arzt der holländischen Handelsdelegation mitbringt, sind für die japanischen Heilkundigen interessant, aber sie dürfen sich nicht von Kämpfer unterrichten lassen. Die Sektion einer Leiche wird in aller Heimlichkeit vorbereitet, die Kämpfer dazu dienen soll, zwei japanischen Männern die Anatomie des menschlichen Körpers zu zeigen. Im Wissenstausch erhält Kämpfer dafür Unterricht in der Geschichte Japans.

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