Die Demokraturen Mittelosteuropas
von Paweł Karolewski, Claus LeggewiePolitik und Politikwissenschaft tun sich schwer mit der Benennung und Einordnung der Entwicklungen in Mittelosteuropa. Für Ungarn und Polen wurden, wie einst für Russland, Bezeichnungen wie illiberale, semikonsolidierte oder defekte Demokratie kreiert. Dieser Ansatz einer »Demokratie mit Adjektiven« verleitet freilich dazu, demokratische Entwicklung auf einer Skala zu betrachten, ohne den Bruch oder Übergang zwischen Demokratie und Nichtdemokratie eindeutig identifizieren zu müssen. Dadurch entsteht der Eindruck, die Variationen von Demokratie seien viel zahlreicher als wir es bei »typischen« (klassischen) Demokratien gewohnt sind. Dies führt zu problematischen Schlüssen. Erstens ist man schnell bei der Behauptung, fast jede Demokratie sei irgendwie defizitär. Zweitens geht der Glaube an das fast unbegrenzte Spektrum des Demokratischen mit der Einstellung einher, dass die Kritik an Entdemokratisierung in Mittelosteuropa (und auch in anderen Ländern) übertrieben sei.
Der neue Doppelstaat
Wir schlagen vor, die Entwicklung in den Visegrád-Staaten (V4) als Herausbildung von »Demokraturen« zu charakterisieren, die eine neue Form des Autoritären darstellen. Der Kern von Demokraturen ist ein Doppelstaat. In diesem (andernorts schon eingeführten) Neologismus vermengen sich demokratische mit autokratischen Elementen von Herrschaft. Wie das Beispiel Ungarns zeigt, beanspruchen Demokraturen demokratische Legitimation durch Wahlen für sich und können effektive Massenunterstützung organisieren. Sie veranstalten tatsächlich zyklische freie Wahlen, die allerdings unfair sind, da eine Partei die Massenmedien kontrolliert und Wahlgesetze zu eigenen Gunsten umwandelt oder umzuwandeln sucht. Demokraturen sind durchaus imstande, die Unterstützung von Massen in der Zeit zwischen den Wahlen zu mobilisieren, zum Beispiel in Ungarn, wo Massendemonstrationen zur Unterstützung der Regierung erfolgreich organisiert worden sind.
Mit dem Begriff des Doppelstaats greifen wir auf Ernst Fraenkel zurück, der im US-amerikanischen Exil den deutschen Nationalsozialismus in einer Dualität von Maßnahmen- und Normenstaat analysierte. Der Normenstaat folgt Gesetzen, während der Maßnahmenstaat die politische Logik autoritärer Zweckmäßigkeit anwendet. »Im politischen Sektor des dritten Reiches gibt es kein objektives und daher auch kein subjektives Recht, keinen Rechtsschutz und keine mit Rechtsgarantien versehenen Kompetenzen. In diesem politischen Sektor fehlen die Normen und herrschen die Maßnahmen.« Im Bereich des »Normenstaats« behalten Gesetze, Gerichtsentscheidungen und Verwaltungsakte Gültigkeit; im Privatrechtsverkehr, vor allem in der kapitalistischen Wirtschaft, bleiben Rechtsnormen wie Vertragsrecht und Eigentum (zunächst) vor Willküreingriffen bewahrt.
Auch wenn der Nationalsozialismus mit den Demokraturen nicht gleichzusetzen ist, scheint uns das Konzept von Fraenkel für die Entwicklungen in den Visegrád-Staaten eine hohe Erklärungskraft zu besitzen. Bei Fraenkel stand die Funktionsweise des Rechts und der Umbau des Justizwesens im Zentrum, wobei die Rechtsordnung nur ein und nicht das zentrale Element des Nationalsozialismus war; bedeutsamer waren das Parteimonopol, die Massenmobilisierung, der gesellschaftliche Korporatismus sowie Terror und Militarismus.
Die Unterscheidung von Fraenkel kann insofern zum Verständnis heutiger Demokraturen beitragen, da in ihnen eine Dualität der Rechtsordnung zu erkennen ist. Hier werden das Verfassungsrecht (beziehungsweise das Recht mit Verfassungsfolgen) und das Polizeirecht nach der Logik des Maßnahmenstaats verwendet, während andere Bereiche des Rechts von der Entdemokratisierung wenig oder gar nicht tangiert werden. Verfassungsorgane werden durch Parteien oder oligarchische Akteure vereinnahmt und an Partikularinteressen ausgerichtet. Dabei geht es nicht nur darum, neue Gesetze zu verabschieden, die den Maßnahmenstaat ermöglichen sollen; Gesetze dienen vor allem der Aushöhlung von Staatsinstitutionen, wie vor allem Verfassungsgerichten, um diese personell zu unterwandern und weltanschaulich zu imprägnieren.
Primäres Ziel des Maßnahmenstaats in der Demokratur ist die Veränderung der Funktionsweise staatlicher Institutionen, um ihnen die Unabhängigkeit zu nehmen. Verfassungen bieten keinen Schutz, wenn diese mit Supermehrheiten verändert werden können (wie in Ungarn) oder die Funktionsweise der Verfassungsorgane mit einfachen Gesetzen (wie in Polen) deformiert wird. So kann die Arbeitsweise eines Verfassungsgerichts durch eine Neuzusammensetzung mittels arbiträrer Erhöhung der Richterzahl oder durch das Entfernen politisch nicht genehmer Richterinnen im Sinne der Herrschaftseliten nachhaltig verändert werden, auch ohne dass der Buchstabe der Verfassung angetastet wird. Das Recht, dem systemisch die Funktion der Beschränkung von Herrschaft zukommt, dient nun zu deren Durchsetzung, ohne dass bei Übergriffen noch der Rechtsweg offensteht.
Werden unabhängige Gerichte durch »Loyalisten« der Regierungspartei beziehungsweise Statthalter der oligarchischen Akteure übernommen, beeinflusst oder kontrolliert, kann die Justiz als Instrument der demokratischen Erosion dienen. Zur Unterlassung neigende Gerichte stellen Freifahrtscheine für korrupte Politiker und Unternehmer aus, während repressiv tätige Gerichte politische Gegner aktiv bekämpfen und Kritiker zum Schweigen bringen. Die Methode der Einschüchterung durch Gerichtsverfahren greift beispielsweise zu Strafanzeigen wegen Verleumdung, um politische Gegner oder kritische Journalisten auszuschalten. In Polen betreiben dies Staatsanwaltschaft, Staatsfernsehen und Unternehmen im Staatsbesitz. Eine der am häufigsten verklagten Zeitungen in Polen ist die regierungskritische Gazeta Wyborcza, gegen die Regierungsakteure und regierungsnahe Organisationen allein im Jahr 2018 zwanzig Verleumdungsklagen eingereicht haben.
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