Heft 881, Oktober 2022

Die Mär vom Großen Austausch

von Claus Leggewie

Die Rede vom »Großen Austausch« unterstellt eine von liberalen Regierungen bewusst angestrebte Auswechslung der weißen (und christlichen) Mehrheit im Globalen Norden durch nichtweiße, überwiegend muslimische Einwandererfamilien aus dem Globalen Süden. Das Mittel dazu sei eine durch die Öffnung der Grenzen mögliche Masseneinwanderung; die diesbezügliche Einlassung der deutschen Kanzlerin Angela Merkel, das sei zu schaffen, gilt Anhängern dieser Verschwörungstheorie als Beleg für das Vorliegen eines gezielten Plans.

Völlig aus der Luft gegriffen, sollte man meinen. Doch das Unheimliche an diesem »Meme«, dessen stete und rasante Verbreitung in Frankreich, den USA und Deutschland ich hier skizzieren möchte, ist, dass seine Randständigkeit keineswegs bedeutet, es sei nicht mehrheitsfähig. Die Mär vom »Großen Austausch« verbreiten nicht nur mordbereite »lone wolfs« in der Nachfolge Anders Breiviks, dessen Anschlägen im Sommer 2011 in Oslo und auf der Insel Utoya 77 überwiegend junge Menschen zum Opfer fielen;1 seinem Skript folgten ein Dutzend weiterer Massaker, unter anderem an zwei Moscheen im neuseeländischen Christchurch, der Synagoge von Halle und in einem Supermarkt in Buffalo /New York. Jedes Mal inszenierten sich die Massenmörder als verzweifelte Kämpfer gegen den »Großen Austausch«.

Darüber zeigten sich auch bekennende »Ethno-Nationalisten« entsetzt, doch übersetzt man die Quintessenz der Taten der »einsamen Wölfe« in eine Umfrage, dann stimmen in den Vereinigten Staaten fast zwei Drittel der Wähler Trumps (und über die Hälfte der Zuschauer von Fox News) der These zu, die weiße Mehrheit werde regierungsseitig planmäßig ausgetauscht und die Medien würden dieses Komplott decken. Fox-News-Anchorman Tucker Carlson hat hundertfach wiederholt, die Demokraten würden das »great replacement« vorantreiben, um dank ihrer multikulturellen Basis Wahlen zu gewinnen.2

Möchten Sie weiterlesen?

Mit dem Digital-Abo erhalten Sie freien Zugang zum gesamten MERKUR, mit allen Texten von 1947 bis heute. Testen Sie 3 Monate Digital-Abo zum Sonderpreis von nur 9,90 Euro.

Jetzt Probelesen

Weitere Artikel des Autors