Heft 873, Februar 2022

Die Demokraturen Mittelosteuropas

von Paweł Karolewski, Claus Leggewie

Politik und Politikwissenschaft tun sich schwer mit der Benennung und Einordnung der Entwicklungen in Mittelosteuropa.1 Für Ungarn und Polen wurden, wie einst für Russland, Bezeichnungen wie illiberale, semikonsolidierte oder defekte Demokratie kreiert. Dieser Ansatz einer »Demokratie mit Adjektiven« verleitet freilich dazu, demokratische Entwicklung auf einer Skala zu betrachten, ohne den Bruch oder Übergang zwischen Demokratie und Nichtdemokratie eindeutig identifizieren zu müssen. Dadurch entsteht der Eindruck, die Variationen von Demokratie seien viel zahlreicher als wir es bei »typischen« (klassischen) Demokratien gewohnt sind. Dies führt zu problematischen Schlüssen. Erstens ist man schnell bei der Behauptung, fast jede Demokratie sei irgendwie defizitär. Zweitens geht der Glaube an das fast unbegrenzte Spektrum des Demokratischen mit der Einstellung einher, dass die Kritik an Entdemokratisierung in Mittelosteuropa (und auch in anderen Ländern) übertrieben sei.

Der neue Doppelstaat

Wir schlagen vor, die Entwicklung in den Visegrád-Staaten (V4) als Herausbildung von »Demokraturen« zu charakterisieren, die eine neue Form des Autoritären darstellen. Der Kern von Demokraturen ist ein Doppelstaat. In diesem (andernorts schon eingeführten) Neologismus vermengen sich demokratische mit autokratischen Elementen von Herrschaft.2 Wie das Beispiel Ungarns zeigt, beanspruchen Demokraturen demokratische Legitimation durch Wahlen für sich und können effektive Massenunterstützung organisieren. Sie veranstalten tatsächlich zyklische freie Wahlen, die allerdings unfair sind, da eine Partei die Massenmedien kontrolliert und Wahlgesetze zu eigenen Gunsten umwandelt oder umzuwandeln sucht. Demokraturen sind durchaus imstande, die Unterstützung von Massen in der Zeit zwischen den Wahlen zu mobilisieren, zum Beispiel in Ungarn, wo Massendemonstrationen zur Unterstützung der Regierung erfolgreich organisiert worden sind.

Mit dem Begriff des Doppelstaats greifen wir auf Ernst Fraenkel zurück, der im US-amerikanischen Exil den deutschen Nationalsozialismus in einer Dualität von Maßnahmen- und Normenstaat analysierte.3 Der Normenstaat folgt Gesetzen, während der Maßnahmenstaat die politische Logik autoritärer Zweckmäßigkeit anwendet. »Im politischen Sektor des dritten Reiches gibt es kein objektives und daher auch kein subjektives Recht, keinen Rechtsschutz und keine mit Rechtsgarantien versehenen Kompetenzen. In diesem politischen Sektor fehlen die Normen und herrschen die Maßnahmen.«4 Im Bereich des »Normenstaats« behalten Gesetze, Gerichtsentscheidungen und Verwaltungsakte Gültigkeit; im Privatrechtsverkehr, vor allem in der kapitalistischen Wirtschaft, bleiben Rechtsnormen wie Vertragsrecht und Eigentum (zunächst) vor Willküreingriffen bewahrt.

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