Die Mär vom Großen Austausch
von Claus LeggewieDie Rede vom »Großen Austausch« unterstellt eine von liberalen Regierungen bewusst angestrebte Auswechslung der weißen (und christlichen) Mehrheit im Globalen Norden durch nichtweiße, überwiegend muslimische Einwandererfamilien aus dem Globalen Süden. Das Mittel dazu sei eine durch die Öffnung der Grenzen mögliche Masseneinwanderung; die diesbezügliche Einlassung der deutschen Kanzlerin Angela Merkel, das sei zu schaffen, gilt Anhängern dieser Verschwörungstheorie als Beleg für das Vorliegen eines gezielten Plans.
Völlig aus der Luft gegriffen, sollte man meinen. Doch das Unheimliche an diesem »Meme«, dessen stete und rasante Verbreitung in Frankreich, den USA und Deutschland ich hier skizzieren möchte, ist, dass seine Randständigkeit keineswegs bedeutet, es sei nicht mehrheitsfähig. Die Mär vom »Großen Austausch« verbreiten nicht nur mordbereite »lone wolfs« in der Nachfolge Anders Breiviks, dessen Anschlägen im Sommer 2011 in Oslo und auf der Insel Utoya 77 überwiegend junge Menschen zum Opfer fielen; seinem Skript folgten ein Dutzend weiterer Massaker, unter anderem an zwei Moscheen im neuseeländischen Christchurch, der Synagoge von Halle und in einem Supermarkt in Buffalo /New York. Jedes Mal inszenierten sich die Massenmörder als verzweifelte Kämpfer gegen den »Großen Austausch«.
Darüber zeigten sich auch bekennende »Ethno-Nationalisten« entsetzt, doch übersetzt man die Quintessenz der Taten der »einsamen Wölfe« in eine Umfrage, dann stimmen in den Vereinigten Staaten fast zwei Drittel der Wähler Trumps (und über die Hälfte der Zuschauer von Fox News) der These zu, die weiße Mehrheit werde regierungsseitig planmäßig ausgetauscht und die Medien würden dieses Komplott decken. Fox-News-Anchorman Tucker Carlson hat hundertfach wiederholt, die Demokraten würden das »great replacement« vorantreiben, um dank ihrer multikulturellen Basis Wahlen zu gewinnen.
Auch in Frankreich äußerten sich 2021 über zwei Drittel der Befragten diesbezüglich besorgt. Der Mathematiker David Chavalarias hat in seinem jüngst erschienenen Buch Toxic Data, unterstützt durch eine beeindruckende Installation auf der 12. Berlin Biennale, anschaulich gemacht, wie solche Memes vor allem in den sozialen Medien zirkulieren und sich nach 2015 geradezu explosionsartig ausgebreitet haben. In diesem Milieu ist keinerlei Gegenmeinung zu vernehmen, die Anhänger des »grand remplacement«, die etwa unter den Gelbwesten stark verbreitet sind, hören und sehen nur sich selbst. In Deutschland fehlen entsprechende Daten, doch in den sozialen Medien, darunter auf der AfD nahestehenden Seiten, und über identitäre Verlagspublikationen hat sich das Meme auch hierzulande stark verbreitet.
Adressat ist das bürgerlich-saturierte Publikum, das in gutgefüllten Vortragssälen Thilo Sarrazin bei seinen im Kern identischen Deutungen demografischer Daten lauscht: Deutschland schafft sich ab. Nach der Pandemie ist die Bereitschaft, sich den konfusen Mix aus Medienschelte, Politiker-Bashing und freihändiger Bevölkerungslehre anzuhören, kaum geschwunden. Sarrazin, bis vor kurzem SPD-Mitglied, darf als stiller Gründer der AfD bezeichnet werden, deren »bürgerliche« Exponenten es nicht Björn Höcke und Andreas Kalbitz überlassen, gegen »Überfremdung« anzureden.
Die Attraktivität der Rede vom »Großen Austausch«, die der französische Romancier Renaud Camus, ein ebenfalls weißhaarig-honoriger Autor, zu Bestsellern machte, liegt in ihrer spontanen Scheinevidenz, wenn nämlich ältere Menschen angestammte Wohnviertel verlassen und ihre Nachbarschaften vor lauter People of Colour nicht mehr wiedererkennen (wollen). Wir seien »Fremde im eigenen Land« kleidete vor nun schon drei Jahrzehnten Franz Schönhuber diese optische Mutation in eine griffige Formel. »On n’est plus chez soi« raunt man auch in Paris, Lille oder Nizza beim Verlassen des Restaurants oder des Opernhauses.
Remplacement
Nicht der wenig originelle Literat Renaud Camus, aber doch Frankreich war der Ursprungsort des Austausch-Ideologems. Der »harmlose« alte Mann hat auf seinem Schloss im Südwesten Frankreichs nach Ausflügen in homosexuelle und pädophile Literatur seit 2008 immer das gleiche politische Buch fortgeschrieben: 2008 erschien La Grande Déculturation, 2010 De l’Innocence – Abécédaire, und 2011 erschienen Le Grand Remplacement sowie Décivilisation, danach im Selbstverlag L’Homme remplaçable und Les Inhéritiers sowie Le Changement de peuple, 2014 France: Suicide d’une nation.
Immer schmalere Bändchen in exklusiver Aufmachung wiederholten die immergleiche Suada. Ist Camus harmlos? Bei den Assises internationales sur l’islamisation, einer islamfeindlichen Veranstaltung der extremen Rechten, hat er Muslime pauschal als »voyous« (Kriminelle), »Soldaten« und »bewaffneten Arm einer Eroberung« denunziert und als »Kolonisatoren« eingeordnet, die Eingeborene (Franzosen) zu Flucht oder Unterwerfung zwingen. Die Antirassismus-Organisation MRAP reichte Klage ein, die 17. Strafkammer in Paris verurteilte Camus zu 4000 Euro Geldstrafe wegen Aufstachelung zum Rassenhass; seine Verteidigungsrede (Discours à la XVIIe chambre) kann man ebenfalls nachlesen. 2015 wurde das Urteil durch ein Berufungsgericht bestätigt.
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