Heft 846, November 2019

Gedächtnis des Kuckucks

von Günter Hack

Der Kuckuck ist eher ein Prinzip als ein Vogel. Er kommt von weit her, aus Afrika, um der lokalen Population seinen Nachwuchs zur Aufzucht zu überlassen. Damit konzentriert er alle Urängste des sesshaften Patriarchats von fremder Invasion bis hin zu sexueller Unterwanderung in seiner Person. »Kuckuck! Kuckuck! Ruft’s aus dem Wald«, heißt es im Kinderlied, der Frühling kommt, er ist subversiv.

In der Landschaft verhalten sich Kuckucke eher zurückhaltend. Die Exemplare, die ich beobachte, sitzen gern in besonders hohen Bäumen an Flüssen oder an einem ganz bestimmten Feuchtgebiet. Im Unterholz knarzen und ziepen ihre potentiellen Wirtseltern, Kleinvögel, denen die Co-Evolution mit dem Kuckuck im Lauf der Jahrtausende eine gewisse Diskretion nahegelegt hat.

Die sumpfigen Wiesen sind für Landwirtschaft und Immobilienbranche gleichermaßen uninteressant, einer jener Zwischenräume, in denen es sich lohnt, Zeit zu verbringen. Ab und zu lassen sich dort Kiebitze blicken, sie umtanzen einander im Taumelflug und betören sich mit Geräuschen, die klingen wie die Sendersuche am Kurzwellenradio. Wenn ich ein Wort wie »Kurzwellenradio« schreibe, weiß ich, dass es schon heute kaum noch ein Leser verstehen wird. Aber das ist schön, denn es bedeutet auch, dass der Ruf der Kiebitze unvergleichbar geworden ist und ihnen nun wieder ganz allein gehört.

Dem Kuckuck wird niemand mehr seinen Ruf zurückgeben können. Er wird als musikalisches Fossil zurückbleiben, selbst wenn der Vogel einmal aussterben sollte. Für den Ruf des Kuckucks gilt aber auch, dass die Interpretation mindestens so wichtig ist wie die Partitur. Der Vogel singt weich, seine Melodie verändert die Landschaft sofort. Da sind nicht mehr Wiese und Wäldchen und Bach, da ist das Leben selbst, im Ruf des Kuckucks geborgen.

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