Spuren der Schwarznuss
von Günter HackDrei Jahre lang hatte ich nur am Computer getippt, nun musste ich einen Strich ziehen. Um den Strich ziehen zu können, brauchte ich Material. Ich nahm einen Stoffbeutel, ging dem Oktoberwind entgegen, die Straße entlang, bis zur Eisenbahnbrücke. Hinter der Brücke wuchs auf einem festgestampften Stück Rasen zwischen Hauptstraße und geparkten Autos der Baum, den ich suchte. Ein Schwarznussbaum, Juglans nigra, schlanker Stamm, Äste vom Verkehr geschwärzt, Blätter bereits abgefallen. Ich bückte mich, tastete den Boden ab, fand tischtennisballgroße Früchte im Laub, die Hüllen schon angefault braun oder von Passanten ins Schwarze zertreten. Ich sammelte alles, bückte mich nach den weggerollten frischeren Früchten, ließ sie in meinen Stoffbeutel fallen. Das Material roch faulig, säuerlich, nach altem Schweiß.
Aber: nicht genügend Nüsse da. Ich musste also noch in den Park. Viele Menschen dort: Kinder, Mütter, Joggerinnen. Hinter dem Baum, den ich suchte, lief ein Mann in einem Jackett über dem Hoodie auf und ab und schrie auf Arabisch in sein Mobiltelefon. Mit meiner kaputten Regenjacke und dem Beutel, in dem ich angefaulte Zierfrüchte sammelte, musste ich aussehen wie ein Irrer. Nein, keine Polizei in Sicht. Der Verkehr auf den Hauptstraßen ringsum rauschte, ich klaubte weiter, bis der Beutel voll war. Im Rasen lagen noch viele Früchte. Kein heimischer Vogel würde die winzigen Nüsse mit ihrer ebenso dicken wie harten Schale essen; die Schwarznuss ist ein fremder Baum, eingeführt aus Nordamerika. Ich brauchte auch nicht die Nüsse selbst, nur die Hüllen, den Abfall.
Zuhause füllte ich das Gesammelte in einen Topf und goss so viel Wasser darauf, dass die obersten Früchte gerade noch damit bedeckt wurden. Ich hätte das Material auch auf dem Herd auskochen können, aber es gab eine einfachere Methode: Deckel drauf und eine Woche lang auf dem Balkon stehen lassen. Hoffen, dass die Sonne scheint.
Die Sonne schien, und sieben Tage später hob ich den Deckel an. Einen modrigen Geruch hatte ich erwartet, aber dem Gefäß entströmte ein nussiges Aroma, sehr komplex, immer noch mit säuerlichem Hintergrund, doch angenehm appetitanregend. Die Fruchthüllen waren in sich zusammengefallen, hatten sich tiefbraun verfärbt wie das Wasser, in dem sie schwammen. Ich stellte diese Suppe auf den Herd und ließ sie noch eine Stunde lang köcheln. Dann siebte ich die groben Pflanzenteile aus und kochte den Sud für eine halbe Stunde ein. Wäre er zu wässrig, fiele die Tinte, die ich produzieren wollte, zu hell aus.
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