Heft 873, Februar 2022

Körperbilder

Zur Photogrammetrie von Günter Hack

Zur Photogrammetrie

Als ich ein kleiner Junge war, wollte ich ein Gespenst werden. Es war ein Herbsttag, ich musste Holz für den Ofen aufschichten, eine besonders öde Aufgabe. Da dachte ich mir: Jetzt gehe ich immer denselben Weg. Und weil ich immer denselben Weg gehe, bleibt etwas von mir hier zurück, und weil ich immer hier bleibe, werde ich ein Gespenst und auch in hundert Jahren noch sichtbar sein, zumindest so ein bisschen. Wenn ich also oft genug hin und her lief, so dachte ich, dann würde ich irgendwann umgehen müssen. Einen unsterblichen Schatten werfen und an diesen Ort und in diese Spur zurückgerufen werden.

Ich wollte mich in Raum und Zeit einschreiben. Das ist mir auch gelungen, zumindest was mein eigenes Gedächtnis betrifft. Ich kann mich an den Moment immer noch sehr gut erinnern, an den Holzstoß, an die Nebelkälte, an die Regentropfen auf den Lodenjackenärmeln. Kein guter Tag, um ein Gespenst zu werden, aber in der Wiederholung meiner Gesten konnte ich wohl nicht anders, als mich als ein kleines bisschen selbstverflucht wahrzunehmen. Ein Gespenst ist ein Wieder-Gänger, der sich der Last der Materie entledigt hat, vor allem dieser lästigen Holzscheite.

Leider weiß ich nicht mehr, wie alt ich war, als ich mich zum Gespenst wandeln wollte. Ich hatte noch keine eigene Sicht auf die Welt, möglicherweise hätte dieser Stimmung eine robuste Privatreligion entwachsen können, aber ich verdrängte den Moment schnell wieder – bis die Wohnung einer verstorbenen Verwandten ausgeräumt werden musste, in der ich als Kind viel Zeit verbracht hatte.

Früher hätte ich in der Wohnung einfach noch ein paar Fotos gemacht. Ich lege mir immer eine fotografische Spur, verstecke die Ergebnisse als Zeitkapseln auf mobilen Festplatten und vergesse sie dann, um sie irgendwann wiederzufinden und einen Augenblick lang in Melancholie aufzugehen, wie Roland Barthes in seiner »hellen Kammer«. Bilderströme auf Handys sind die zeitgenössischen Pendants zu den Ahnengalerien des Adels. Man weiß, wo man herkommt, das gibt eine gewisse Sicherheit, auch wenn es nur der Supermarkt gewesen sein mag.

Aber wir leben in den 2020ern, und es stehen uns weiter fortgeschrittene Dokumentationsmethoden zur Verfügung. Ich dilettiere schon seit längerem in Photogrammetrie, der Kunst, aus geschickt miteinander verrechneten Einzelaufnahmen dreidimensionale Konstrukte im Rechner zu erstellen, etwa mit der französischen Software Meshroom. Man fotografiert mit einer Digitalkamera einen Gegenstand oder ein Haus von allen Seiten aus möglichst vielen Winkeln, und die Software, die Brennweite des Objektivs, Größe des bildgebenden Sensors und dessen Entfernung zum Objekt kennt, erstellt daraus ein ziemlich echt aussehendes 3D-Modell, das man drehen und begehen kann, wie in einem Computerspiel. Das Verfahren, Objekte mithlfe der Kamera zu vermessen, ist fast so alt wie die Fotografie selbst. Obwohl der Begriff Photogrammetrie ursprünglich nur den Vermessungsvorgang bezeichnet hat, soll hier der Einfachheit halber die Modellierung im Rechner mitgemeint sein, denn die beiden Vorgänge sind bereits technisch miteinander verschmolzen.

Noch viel einfacher als mit einer traditionellen Digitalkamera lässt sich der ganze Prozess mit einem Smartphone ausführen, das zusätzlich zum Bildsensor einen LIDAR-Sensor eingebaut hat, dessen Laser die Umgebung mit hoher Präzision abtastet. Die Digitalkamera, die direkt neben dem LIDAR-Sensor sitzt, nimmt gleichzeitig Fotos der erfassten Umgebung auf. Eine Photogrammetrie-Software auf dem Mobilgerät erstellt auf Grundlage dieser Informationen eine Punktwolke oder eine Art 3D-Gerüst, in das die Fotos eingepasst werden, beinahe in Echtzeit. Um ein Objekt vollständig in den Rechner zu spiegeln, muss man es von allen Seiten aufnehmen. Das gelingt nicht immer, im Modell bleiben dann Löcher zurück, die entweder leer bleiben oder von der Software mehr oder weniger geschickt automatisch gefüllt werden.

Jetzt stehe ich mit einem solchen Smartphone in der Wohnung und beginne damit, sie aufzunehmen. Beim Fotografieren suche ich Perspektiven, reduziere die Umgebung schon vor dem Auslösen aufs Zweidimensionale. Ich filme selten, aber wenn, dann halte ich mich dabei still und verlasse mich darauf, dass im ausgewählten Rahmen etwas passiert. In der Photogrammetrie geht es weniger um Zeit als um Volumen und Vollständigkeit. Es ist ein Handwerk, körperliche Arbeit, wie Ausmalen. Ich stelle mich auf die Zehenspitzen, um auch die Oberseite des Schranks zu scannen. Ich bücke mich tief unter den Tisch und krieche um seine Beine herum. Ich sehe auf dem Bildschirm, wie sich das Netz des Laserscans bildet, immer feiner, und dann mit den angepassten Fotos überzogen wird. Die Szene auf dem Bildschirm ist dabei ständig in Bewegung, nichts scheint endgültig, ich weiß auch nicht, wie das ganze Modell gerade aussieht, ich bekomme nur den aktuellen Ausschnitt gezeigt. Ich darf auch nicht zwischendurch aufhören, denn beim Zusammenbauen mehrerer Szenen können Fehler entstehen. Es ist wie ein schnittfreier Crane Shot im Film, wie die Mordszene am Ende von Antonionis Beruf: Reporter. Aber ich berichte nichts. Ich male aus.

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