Heft 879, August 2022

Zur Renaissance der politischen Theologie in antidemokratischen Strömungen

von Claus Leggewie

Christen hatten bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts große Schwierigkeiten, die Säkularisierung und die liberale Demokratie als Grundlage moderner Gesellschaften und als Geschäftsordnung des politischen Lebens anzuerkennen. Sie wurden in der politischen Topologie der Moderne deswegen meistens auf der rechten Seite angesiedelt, wobei sich religiöse Bewegungen selbst eher a- und überpolitisch positionierten (die dezidiert linke »Befreiungstheologie« lateinamerikanischer Provenienz ist diesbezüglich eine Ausnahmeerscheinung). Im 20. Jahrhundert und bis heute haben katholische und protestantische Gemeinschaften und Einzelpersönlichkeiten wiederholt mit autoritären Regimen und Bewegungen paktiert, während der Mainstream der europäischen Christenheit sich mit der Trennung von Religion und Politik abfand respektive die säkulare Ordnung als Garanten freier, in Verfassungen verankerter Religionsausübung verinnerlicht hat. Die Abwehr unerwünschter Erscheinungen der liberalen Moderne zeigt sich in eher »privater« Form einer mentalen Reserve und alltäglich gelebten Abweichung. Das Spektrum der Distanzierung reicht hier vom sektiererischen Rückzug bis zu einem oppositionellen Engagement in Teilsystemen des Wohlfahrtsstaats und zivilem Ungehorsam, etwa bei der Unterstützung von Mittellosen und Migranten.

Neuerdings artikuliert eine atmosphärisch und wohl auch zahlenmäßig wachsende Zahl von Christen ihre offene Ablehnung nicht nur bestimmter liberaler Werte und Normen, sondern der liberalen Demokratie insgesamt. Sie verbünden sich mit »populistischen«, genauer: neurechten Parteien und Bewegungen, die mehr oder weniger offen den Status quo repräsentativer Demokratien bekämpfen. Davon sind namentlich zwei klassisch-etablierte Republiken betroffen, Frankreich und die Vereinigten Staaten von Amerika, deren christliche Bataillone in der Neuen Rechten hier mit einem Ausblick auf die deutsche Situation näher betrachtet werden.

Das katholische Frankreich reagiert

Vierzig Prozent der praktizierenden Katholiken in Frankreich haben im ersten Wahlgang zur Präsidentschaft 2022 laut einer validen Umfrage der Tageszeitung La Croix den drei Kandidaten der extremen Rechten ihre Stimme gegeben, 17 Prozent davon allein dem verurteilten Volksverhetzer Eric Zemmour. Das übertrifft den französischen Durchschnitt bei Weitem und wäre der Aufmerksamkeit der katholischen Hierarchie vor dem zweiten Wahlgang der Präsidentschaftswahl würdig gewesen.

Doch auf ein Hirtenwort der Bischöfe wartete man vergeblich. Ihr Motiv war Vorsicht: Kirchenaustritte haben auch in Frankreich stark zugenommen, die Anzahl der Taufen, Firmungen und kirchlichen Eheschließungen ist seit den 1970er Jahren ebenso drastisch gesunken wie die der geweihten Priester. Der katholische Bevölkerungsanteil beträgt nur noch zwei Drittel, der Anteil der praktizierenden Katholiken liegt bei unter fünf Prozent. Viele Beobachter sprechen von einer bevorstehenden Entchristianisierung.

An Gewicht gewonnen hat nun offenbar ein harter Kern, der unbeirrbar an Positionen der Gegenrevolution klebt und im Bund mit Le Pen /Zemmour die Homo-Ehe, die Abtreibung und den »Genderwahn« bekämpfen will, im Hintergrund aber immer auch und vor allem die muslimische Einwanderung. Frankreich galt in der Weltmeinung schon vor diesen jüngsten Einbrüchen als besonders gottfernes und klerusfeindliches Land. Die großgeschriebenen Lumières und die 1905 in die republikanische Verfassung eingeschriebene Laizität erweckten diesen Eindruck, den die ärmliche Erscheinung mancher Kirchengemeinden unterstreichen mag. Die Kirche im Dorf und die orgelumtoste Kathedrale ziehen oft mehr Touristen als Gläubige an. Doch das strikte Religionsregime der Trennung von Staat und Kirche und die Privatisierung von Religion können nicht verbergen, dass bekennende Katholiken in Frankreich auch politisches Gewicht haben, darunter jene Integristen und Reaktionäre, die den Parteien und Bewegungen der extremen Rechten nahestehen.

Der von Charles Maurras (1868–1952) und der Action française (gegründet 1899) ins Leben gerufene Faschismus hatte in seinem Wesenskern katholische Wurzeln, die sich mit antisemitischen, fremden- und deutschenfeindlichen Positionen, Persönlichkeiten und Parteien zum integralen Nationalismus verbanden. Die Action française kämpfte gegen die laizistische Republik für die Wiedereinsetzung einer Erbmonarchie; sie kann als klassisches Exempel reaktionären Denkens gelten, das die bürgerliche Revolution zurückdrehen will. Papst Pius X. erklärte sie für unvereinbar mit dem katholischen Glauben, sein Nachfolger Pius XI. verhängte 1926 eine Lehrverurteilung. Einer der Vordenker der Action française war der glühende Antisemit Edouard Drumont (1844–1917), Autor des verschwörungstheoretischen Machwerks La France juive von 1886, an den Eric Zemmour einigermaßen nahtlos anknüpft.

Der katholische Traditionalismus überstand seine Verstrickung in das Kollaborations-Regime des Marschall Pétain in Vichy genauso wie die Modernisierung der französischen Gesellschaft während der »glorreichen« Wachstumsjahre nach dem Zweiten Weltkrieg. Das politisch-theologische Spektrum reichte von »Arbeiterpriestern« der Linken wie Abbé Pierre über den Mainstream eines gemäßigten Konservatismus bis hin zu Monsignore Marcel Lefebvre, dem stärksten und einflussreichsten Vertreter der Opposition gegen die Selbstmodernisierung der Kirche im Zweiten Vatikanischen Konzil.

Der Niedergang der Algérie française, vordem ein Hort der katholischen Tradition, und die Kulturrevolution des Mai 1968, eine Trägerin postmaterialistischer und individualistischer Überzeugungen, befeuerten die Anbindung der Katholiken an die französischen Rechtsparteien, darunter die extreme Rechte des Front National, und an völkisch-identitäre Strömungen der Nouvelle Droite, deren dezidiertem Neuheidentum zum Trotz. Geistige Gegensätze wurden überbrückt durch stärker ins Gewicht fallende Gemeinsamkeiten – die Verteidigung des Patriarchats in der Traditionsfamilie, angereichert durch die rigorose Ablehnung homosexueller Orientierungen und Lebensgemeinschaften sowie der außerehelichen Sexualität und eines lebensweltlichen Hedonismus. Noch stärker politisiert wurden diese Aversionen in der nationalistischen Ausrichtung der Christen und in der Ablehnung supranationaler Zusammenschlüsse wie der Europäischen Union.

Möchten Sie weiterlesen?

Mit dem Digital-Abo erhalten Sie freien Zugang zum gesamten MERKUR, mit allen Texten von 1947 bis heute. Testen Sie 3 Monate Digital-Abo zum Sonderpreis von nur 9,90 Euro.

Jetzt Probelesen

Weitere Artikel des Autors