Heft 849, Februar 2020

Am Ende des Zwei-Grad-Ziels

Für ein neues Denken im Klimadiskurs von Jens Soentgen

Für ein neues Denken im Klimadiskurs

Der Wunsch zu helfen ist in der Klimaforschung nicht weniger drängend, als es der Wunsch des Arztes ist, lebensbedrohliche Erkrankungen zu heilen: Man will den menschengemachten Klimawandel begrenzen, weil seine weitere ungehinderte Entfaltung katastrophale Auswirkungen hat. Dafür gibt es einen klaren quantitativen Fahrplan, das Zwei-Grad-Ziel, das die Klimapolitik konkreter macht. Doch ist dieses Ziel mehr als Wunschdenken? Auch der Klimadiskurs ist nicht frei von technozentrischem Denken, das trotz aller Rationalität eher von Wünschen und Affekten, weniger aber vom Kontakt mit Tatsachen getrieben ist.

Das Zwei-Grad-Ziel

Das Zwei-Grad-Ziel ist ein umweltpolitisches Konzept, das von dem amerikanischen Wirtschaftswissenschaftler William Nordhaus erstmals 1977 in die Diskussion eingebracht wurde,1 wofür er 2018 den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften erhielt. Es wurde dann insbesondere von dem deutschen Physiker und Klimaforscher Hans Joachim Schellnhuber und dem von ihm jahrelang geleiteten Wissenschaftlichen Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU) prominent vertreten.

Dreh- und Angelpunkt ist die Hypothese, dass man die katastrophalsten Auswirkungen einer globalen Erwärmung gerade noch in einem erträglichen und kontrollierbaren Rahmen halten könne, wenn man sie auf maximal zwei Grad Celsius begrenzt. Es handelt sich um eine Obergrenze, »jenseits derer die Risiken schwerer Ökosystemschäden rapide anwüchsen«.2 Schellnhubers Leitgedanke ist, »dass die Erderwärmung die Anpassungsfähigkeit von Natur und Kultur nicht überfordern« dürfe. Warum es ausgerechnet zwei Grad sind, begründet Schellnhuber so: »Der Blick zurück in die Klimageschichte der letzten Jahrhunderttausende zeigt, dass während der Evolution des modernen Menschen die globale Mitteltemperatur niemals höher gelegen hat als etwa 1,5 °C über dem Niveau zu Beginn der industriellen Revolution. Es wäre riskant, das Menschheitsprojekt jäh aus seinem natürlichen Entwicklungsraum herauszusteuern.« Zudem gesteht er noch eine »0,5 °C Marge« zu, weil er glaubt, dass die moderne Zivilisation eine gewisse Klimaelastizität habe. Damit kommt er zusammen auf zwei Grad Celsius.

Dabei wird ein linearer Zusammenhang zwischen den Kohlendioxidemissionen und dem Temperaturanstieg unterstellt. Schellnhuber geht davon aus, dass folgende Gleichung gilt: ΔT = k ∑ E.

In Worten: Delta T gleich k mal Sigma E, wobei k eine durch Simulationsrechnungen bestimmte Konstante ist. Der Temperaturanstieg, symbolisiert auf der linken Seite der Gleichung mit ΔT, wird also als linear abhängig von der Gesamtsumme der Kohlendioxidemissionen (∑ E) angesehen. Die Gleichung ist eine plausible und sinnvolle Hypothese, und unter dieser Voraussetzung kann man errechnen, welche Mengen Kohlendioxid maximal noch in die Atmosphäre gelangen dürfen, damit der Temperaturanstieg unter zwei Grad Celsius gehalten werden kann. Dieses Ziel kann, sieht man von nukleartechnischen Optionen, von Geoengineering und vom Energiesparen ab, erreicht werden durch den umfassenden Ausstieg aus der Verbrennung fossiler Energieträger (Braunkohle, Steinkohle, Erdöl, Erdgas) und den Umstieg auf erneuerbare Energien (Biomasse, Photovoltaik, Wasserkraft, Windenergie, unter Umständen Geothermie).

Laut Schellnhubers Rechnung ergibt sich, dass die Menschheit von 2015 an noch 500 bis 1000 Milliarden Tonnen klimawirksame Treibhausgase, insbesondere CO2, emittieren kann. Um diese Zahl einschätzen zu können, muss man die aktuellen globalen Kohlendioxidemissionen kennen: Sie beliefen sich im Jahr 2017 auf 41 Milliarden Tonnen CO2. Wenn man diese Emissionen konstant hält, kann die Menschheit noch zehn bis maximal zwanzig Jahre so weitermachen wie jetzt. Dann müsste ein abrupter globaler Emissionsstopp erfolgen. Jede Verfeuerung fossiler Energieträger, ob zur Stahlerzeugung, zur Zementherstellung, zur Herstellung von Kunstdünger, zur Fortbewegung in Autos, Lastwagen, Flugzeugen oder Schiffen oder auch zur Erzeugung von Wärme oder Strom und so weiter, müsste komplett eingestellt werden.

Auch verschiedene andere Übergangsszenarien sind denkbar, etwa die Emissionen sofort zu halbieren und dann den globalen Emissionsstopp entsprechend später einzuläuten. Gemeinsam ist ihnen allen, dass sofort mit sehr einschneidenden Maßnahmen begonnen werden muss, und zwar aller Wahrscheinlichkeit nach im Rahmen einer staatlichen Zwangswirtschaft, wenn das Ziel noch irgendwie erreichbar sein soll. Und gehandelt werden müsste nicht nur in einzelnen Staaten, sondern weltweit, ganz besonders in denjenigen Staaten, die die Hauptemittenten sind, also China, die Vereinigten Staaten, Indien und Russland.

Warum das Zwei-Grad-Ziel nicht mehr erreicht werden kann

Die Forderung dieses Zwei-Grad-Ziels ist ebenso gerechtfertigt wie die Forderung nach nuklearer Abrüstung, denn sowohl der Klimawandel als auch mehr noch ein möglicher nuklearer Konflikt werden beziehungsweise würden unsere Welt drastisch und für eine sehr große Zahl von Menschen in dramatischer Weise negativ verändern. Und doch ist das eine Ziel so unrealistisch wie das andere. Weder die globale Abrüstung noch die Umsetzung des Zwei-Grad-Ziels werden wir in den nächsten zwei oder drei Jahrzehnten erleben.

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