Ortsbesuch in Hambach
von Jens Soentgen»Kennst Du den Hambacher Forst, war das nicht der Ort, an dem Du Rettungsgrabungen gemacht hast?« Dies schrieb ich kurz vor meiner Fahrt in das rheinische Braunkohlerevier einem befreundeten Archäologen, Klaus Hilbert, der heute in Brasilien lehrt. Klaus antwortete sogleich, sandte sogar Fotos von der damaligen Grabung. »Das war Ende der 1970er Jahre. Wir haben die Erdschichten damals Zentimeter für Zentimeter abgezogen, teilweise mithilfe von Baggern, die das ganz vorsichtig abkratzen, zum Teil aber auch mit Maurerkellen von Hand.« Die Archäologen waren fündig geworden, unter anderem entdeckte man das Grab eines römischen Legionärs, der vor rund 1700 Jahren dort beerdigt wurde. Von ihm war nur ein Schatten übriggeblieben, mit wenigen Habseligkeiten und seinem Hund hatte man ihn begraben. »Carpe diem, denk an den Legionär« hatte die Mail von Klaus geendet.
Nachdem über Hambach sehr viel geschrieben und gestritten worden ist, schien es mir an der Zeit, einmal hinzufahren, nicht um zu argumentieren oder zu streiten oder anzuprangern, sondern zunächst einmal, um mich über vierzig Jahre später mit offenen Augen umzusehen.
Wo einst Klaus vorsichtig Schicht für Schicht von dem oberen Lössboden abgetragen hatte, lag nun der tiefste Punkt Deutschlands, rund 325 Meter unter null. Es ist ein Ort der Superlative, das »größte Loch Europas«, jedenfalls aber einer der größten Tagebaue der Welt, inmitten einer der am dichtesten besiedelten Regionen der Erde, nicht weit von Köln. Hier wird Braunkohle abgebaggert, noch bis 2030, dann wird aus dem jetzigen Loch ein See, der, so sieht es der Rekultivierungsplan vor, mit Rheinwasser gefüllt werden soll, dafür soll extra eine Pipeline gelegt werden. Die Befüllung wird mehrere Jahrzehnte dauern. Auch der See wird dann ein Superlativ sein; denn dem Volumen nach – mit voraussichtlich 3,6 Kubikkilometern Wasser – wird es der zweitgrößte in Deutschland sein, größer als der Starnberger See, wenn auch immer noch kleiner als der Bodensee. Den Bodensee und den Starnberger See haben im Laufe mehrerer Jahrtausende Gletscher ausgetieft; Hambach haben wir gegraben, innerhalb von nicht einmal fünfzig Jahren. Die Behauptung, dass die deutlichsten Spuren des Anthropozän die Gruben, Tunnel und Schächte seien, gewinnt in Hambach Evidenz.1
Wie konnte Hambach möglich werden, wie konnte man jemals ein solches Projekt bewilligen, fragen Klimaaktivisten, doch wenn man den historischen Kontext betrachtet, wird Hambach verständlich. Eingeleitet wurde das Genehmigungsverfahren 1974, ein Jahr nach dem »Ölpreisschock«, der durch den Jom-Kippur-Krieg ausgelöst wurde. In diesem Krieg kämpften Ägypten, Syrien und weitere arabische Staaten gegen Israel. Aus Protest gegen die Solidarität westlicher Staaten mit Israel beschloss die Organisation der erdölexportierenden arabischen Staaten, die OAPEC, die Fördermenge herunterzufahren. Daraufhin kam es zu einer drastischen Steigerung des Erdölpreises auf den Weltmärkten und einer Wirtschaftsrezession. Erstmals war in der Bundesrepublik ein Nullwachstum zu verzeichnen, die Zahl der Arbeitslosen verdoppelte sich. Die damalige Bundesregierung unter dem neugewählten Bundeskanzler Helmut Schmidt leitete eine Kurswende in der Energiepolitik ein. Wie bei fast allen westlichen Industriestaaten galt von nun an als oberstes Prinzip, die Abhängigkeit vom Erdöl zu verringern. Die Maßnahmen umfassten den Ausbau der Kernenergie sowie die beschleunigte Nutzung von Braunkohle und Erdgas. Auch die Steinkohlenutzung sollte gefördert werden.2
Umweltpolitische Belange waren zwar bereits auf der Agenda, hatten aber keine Priorität; Klimaschutz war noch kein öffentliches Thema, obwohl der steigende Kohlendioxidgehalt der Luft damals schon seit sechzehn Jahren kontinuierlich gemessen wurde und obwohl manche Klimaforscher bereits warnten, dass der Konzentrationsanstieg eine globale Erwärmung mit sich bringe. Doch damals ging es um Energieunabhängigkeit; es ging darum, dass die Arbeitslosen wieder beschäftigt werden konnten, dass die Wirtschaft wieder auf die Beine kommt. In diesem Kontext war die Genehmigung für den Tagebau Hambach nicht nur vertretbar, sondern schlüssig, im diskussionsfeindlichen politischen Jargon der Merkel-Zeit würde man sagen: alternativlos.
Heute haben sich die politischen Gewichte verschoben. Zahlreiche Menschen weltweit sind aus guten Gründen der Überzeugung, dass der Klimawandel, ähnlich wie die Existenz von Kernwaffen, eine Bedrohung darstellt. Obwohl Deutschland, das heute nur noch einen kleinen und weiter schwindenden Teil zu den weltweiten Emissionen beiträgt, das Problem allein nicht lösen kann, ist die Bereitschaft zum Wandel hierzulande besonders groß. Nach jahrelangem öffentlichem Druck und Fridays-for-Future-Protesten kam der »Kohlekompromiss« zustande, der auch für den Tagebau Hambach Konsequenzen hat. 1,1 Milliarden Tonnen Braunkohle, die ursprünglich noch hätten abgebaggert werden sollen, bleiben nun unter der Erde, der Tagebau wird vorzeitig stillgelegt. Damit kann zum Beispiel der Ort Morschenich, der heute schon eine Geisterstadt ist, erhalten bleiben; wenn auch nicht nur zur Freude der dort noch Wohnenden, von denen zumindest einige lieber umgesiedelt werden würden und deshalb auch gerichtlich gegen die RWE vorgehen.
Ich besuche den Ort gemeinsam mit Ulrich Lieven, dem Abfallbeauftragten für die Tagebaue, zugleich ein ausgewiesener Paläobotaniker, der zu fossilen Pflanzen forscht und publiziert.3 Sein Hobby und sein Beruf ergänzen sich, denn jeden Tag ist er in einem gewaltigen fossilen Archiv unterwegs, in dem die Schaufelradbagger immer wieder neue Seiten aufschlagen und neue Schichten freigelegen. So werden neue Funde möglich, mal sind es ganze Baumstämme in großartiger Erhaltung, mal verbrannte Hölzer als Spuren von Waldbränden, Zapfen und Früchte von Bäumen oder auch Blätter.
Ich habe schon viele Industriebetriebe und Minen besichtigt, aber selten war eine Führung so freundlich und zugleich so kompetent, so aufschlussreich in jeder Hinsicht. Die Gegend ist mir bekannt, in der Nähe bin ich aufgewachsen. Schon als Zehnjähriger war ich mit meinem Bruder und unserem Vater in dem nicht weit von Hambach gelegenen Tagebau »Zukunft« unterwegs, wo wir nach Fossilien suchten und reichlich fündig wurden. Die damals aufgesammelten Zweige, Zapfen und Früchte hatte mein Vater mit Klarlack konserviert und auf einem beiliegenden Zettel beschriftet, der im Lauf der Jahre selbst braun wurde. Als er starb, habe ich die Funde, die er im Deckel einer jener Dosen mit englischem Konfekt, die meine Mutter sehr liebt, arrangiert hatte, sorgsam verpackt und mitgenommen. Sie liegen direkt vor mir in meinem Bücherregal.
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