Heft 865, Juni 2021

Ortsbesuch in Hambach

von Jens Soentgen

»Kennst Du den Hambacher Forst, war das nicht der Ort, an dem Du Rettungsgrabungen gemacht hast?« Dies schrieb ich kurz vor meiner Fahrt in das rheinische Braunkohlerevier einem befreundeten Archäologen, Klaus Hilbert, der heute in Brasilien lehrt. Klaus antwortete sogleich, sandte sogar Fotos von der damaligen Grabung. »Das war Ende der 1970er Jahre. Wir haben die Erdschichten damals Zentimeter für Zentimeter abgezogen, teilweise mithilfe von Baggern, die das ganz vorsichtig abkratzen, zum Teil aber auch mit Maurerkellen von Hand.« Die Archäologen waren fündig geworden, unter anderem entdeckte man das Grab eines römischen Legionärs, der vor rund 1700 Jahren dort beerdigt wurde. Von ihm war nur ein Schatten übriggeblieben, mit wenigen Habseligkeiten und seinem Hund hatte man ihn begraben. »Carpe diem, denk an den Legionär« hatte die Mail von Klaus geendet.

Nachdem über Hambach sehr viel geschrieben und gestritten worden ist, schien es mir an der Zeit, einmal hinzufahren, nicht um zu argumentieren oder zu streiten oder anzuprangern, sondern zunächst einmal, um mich über vierzig Jahre später mit offenen Augen umzusehen.

Wo einst Klaus vorsichtig Schicht für Schicht von dem oberen Lössboden abgetragen hatte, lag nun der tiefste Punkt Deutschlands, rund 325 Meter unter null. Es ist ein Ort der Superlative, das »größte Loch Europas«, jedenfalls aber einer der größten Tagebaue der Welt, inmitten einer der am dichtesten besiedelten Regionen der Erde, nicht weit von Köln. Hier wird Braunkohle abgebaggert, noch bis 2030, dann wird aus dem jetzigen Loch ein See, der, so sieht es der Rekultivierungsplan vor, mit Rheinwasser gefüllt werden soll, dafür soll extra eine Pipeline gelegt werden. Die Befüllung wird mehrere Jahrzehnte dauern. Auch der See wird dann ein Superlativ sein; denn dem Volumen nach – mit voraussichtlich 3,6 Kubikkilometern Wasser – wird es der zweitgrößte in Deutschland sein, größer als der Starnberger See, wenn auch immer noch kleiner als der Bodensee. Den Bodensee und den Starnberger See haben im Laufe mehrerer Jahrtausende Gletscher ausgetieft; Hambach haben wir gegraben, innerhalb von nicht einmal fünfzig Jahren. Die Behauptung, dass die deutlichsten Spuren des Anthropozän die Gruben, Tunnel und Schächte seien, gewinnt in Hambach Evidenz.1

Möchten Sie weiterlesen?

Mit dem Digital-Abo erhalten Sie freien Zugang zum gesamten MERKUR, mit allen Texten von 1947 bis heute. Testen Sie 3 Monate Digital-Abo zum Sonderpreis von nur 9,90 Euro.

Jetzt Probelesen

Weitere Artikel des Autors