Das Verschwinden der Wasserfälle
von Jens SoentgenAm tosenden Rheinfall bei Schaffhausen stand 1791 als damals junger Mann der Maler Joseph Anton Koch, ergriffen und staunend, wie der Eintrag in seinem Tagebuch dokumentiert: »Gleich dem wilden Strom wallte mein Blut, pochte mein Herz. Es schien mir als riefe mir der Gott des Rheins vom zackigsten Fels zu: Steh auf, handle […] stemme dich gewaltig gegen Despotismus, reiß auseinander die schimpflichen Bande, welche dich fesseln, sei unerschütterlich […] in der Verteidigung der Freiheit der Menschheit.«
Die leibliche Resonanz, die Koch betont, ist sicherlich ein Spezifikum gerade des Erlebens von Wasserfällen, deren Donnern so laut sein kann, dass es tatsächlich durch Mark und Bein geht. Hinzu kommen die Ausläufer, die Gischt, die einen bei entsprechenden Dimensionen oft noch über Hunderte Meter hinweg anweht und kühlt. Viele Rheinfall-Besucher haben von ähnlich intensiven Eindrücken berichtet, von Gefühlen der Entgrenzung, von kosmischer Verbundenheit, aber auch von der Schwierigkeit, auszudrücken, was man da denn eigentlich gerade erlebt hat.
Natürlich gab es immer auch prosaischere Naturen, die sich einfach nur enttäuscht oder gar verärgert von der Szenerie abgewandt haben. Koch hingegen erlebt die innere Erschütterung am Rheinfall als persönlichen Anruf. Er hadert schon länger mit dem despotischen Regime und dem verknöcherten Lehrsystem der Stuttgarter Kunstakademie. Auch die Aussicht, später einmal als Hofmaler sein Auskommen suchen zu müssen, ist für ihn wenig attraktiv, zumal er insgeheim mit der Revolution sympathisiert. Innerlich gestärkt vom Bild der über den Felsen stürzenden Wassermassen und wachgerüttelt durch den emotionalen Ausnahmezustand gibt er sich einen Ruck. Er entschließt sich, nach dem Vorbild des Flusses, sein Leben in freiere, wenn auch risikoreichere Bahnen zu lenken. Nach längeren Wanderungen in den Alpen und Italien lässt er sich schließlich in Rom als freier Künstler nieder.
Kodierungen
Die Tradition, wild fließende, schäumende Flüsse als Sinnbild freien und eigenmächtigen Verhaltens aufzufassen, ist alt; schon in der Spätantike, im Traumbuch des Artemidor, werden Flüsse mit Richtern und strengen Herren verglichen, weil sie ihre eigenen Gesetze machen und auch durchsetzen können. Hier scheint es besonders die mechanische Kraft der Wassermassen zu sein, die die Analogie zu Menschen oder Menschengruppen nahelegt, die ihre Macht unbekümmert geltend machen.
Auch in der barocken Allegorik signalisierte Wasser Autonomie. Das Emblem des Amos Comenius etwa, mit dem der prominente Pädagoge, Philosoph und evangelische Theologe die Titelkupfer seiner Werke schmückte, zeigt einen aus einer Quelle frei und kraftvoll fließenden Fluss, sowie Wolken, die Wälder mit üppigem Regen bewässern. Omnia sponte fluant, absit violentia rerum, lautet die Umschrift – alles fließe frei, Gewalt sei fern den Dingen: »Denn alles, was natürlich ist, geht von selbst. Das Wasser muss man nicht zwingen, einen Abhang hinunter zu fließen; entferne nur den Damm oder was es sonst zurückhält, und du wirst sehen, dass es sofort fließt.« Das ist nicht nur eine pädagogische Maxime. Der Umstand, dass Comenius, der in seinem Leben hinreichend Gewalt erfahren hatte, dieses Sinnbild seit 1648 verwendete, dem Jahr, in dem der Dreißigjährige Krieg mit dem Westfälischen Frieden beendet wurde, legt nahe, dass er damit auch eine politische Botschaft verband.
Im frühen 19. Jahrhundert waren Wasserfälle ein besonders geschätztes ästhetisches Sujet. Und auch hier wies das Schauspiel über sich hinaus. Noch in den enthusiastischen Schilderungen Alexander von Humboldts (der Joseph Anton Koch gut kannte und schätzte) der Wasserfälle des Orinoco ist die fast republikanische Begeisterung über die eigenmächtige Freiheit, mit der sich das Wasser seinen Weg bahnt, mit der es schließlich die gängelnde Unterlage ganz verlässt, um sich frei hinabzustürzen, deutlich zu spüren. Sie wird noch gesteigert durch das Symbol des versöhnenden und die Szene spirituell erhöhenden Regenbogens, der sich über den tobenden Wassern erhebt: »Eine meilenlange schäumende Fläche bietet sich auf einmal dem Auge dar. Eisenschwarze Felsmassen ragen ruinen- und burgartig aus derselben hervor […] Dichter Nebel schwebt ewig über dem Wasserspiegel. Durch die dampfende Schaumwolke dringen die Gipfel der hohen Palmen. Wenn sich im feuchten Dufte der Strahl der glühenden Abendsonne bricht, so beginnt ein optischer Zauber. Farbige Bögen verschwinden und kehren wieder.«
Schillers Zusammendenken des Erhabenen mit der Freiheit
Dass erhabene Naturszenen nicht nur genossen, sondern dass sie als spirituelle Erfahrung und persönliche Anrufung erlebt werden können, wird durch aktuelle neurowissenschaftliche Befunde bestätigt. Für manche Menschen ändert sich nach solchen Erfahrungen »alles«. Man sehe die Welt mit anderen Augen, so wird berichtet, neu und frisch, wie zum allerersten Mal. Man ändere seine Vorstellungen über die Welt und das eigene Leben. Obwohl das Erlebnis abebbt und irgendwann nur noch eine Erinnerung ist, hat es langfristige Auswirkungen. Bisweilen wirkt das Gefühl von Weitung und Freiheit so intensiv nach, dass, wie bei Joseph Anton Koch, die gesamte Lebensbahn einen anderen Kurs nimmt.
Diese Transformationsaspekte hatte schon Friedrich Schiller in den Mittelpunkt seiner Lehre vom Erhabenen gestellt. Und deshalb lohnt es, trotz einer inzwischen reichhaltigen Literatur zu diesem Thema, an Schillers Gedanken zu erinnern. In seiner 1801 publizierten Schrift knüpft er an Immanuel Kants Kritik der Urteilskraft an, popularisiert aber nicht nur, wie man manchmal liest, die kantische Darstellung, sondern erweitert sie auch. Ihm geht es besonders um die langfristige Wirkung erhabener Naturerlebnisse, denen er einen beträchtlichen Effekt zuschreibt.
Wer Erhabenes sieht, wird innerlich gestärkt und selbst erhoben, denn: »Der Anblick unbegrenzter Fernen und unabsehbarer Höhen, der weite Ocean zu seinen Füßen und der größere Ocean über ihm entreißen seinen Geist der engen Sphäre des Wirklichen und der drückenden Gefangenschaft des physischen Lebens. Ein größerer Maßstab der Schätzung wird ihm von der simpeln Majestät der Natur vorgehalten und von ihren großen Gestalten umgeben, erträgt er das Kleine in seiner Denkart nicht mehr.«
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