Heft 890, Juli 2023

Vom Naturschutz zur Produktion von Natur

von Jens Soentgen

Der Begriff »Naturschutz« wurde in seiner heutigen Bedeutung im deutschen Sprachraum erstmals in einer Serie von Artikeln verwendet, die zwischen 1871 und 1872 in einer Jagdzeitschrift erschienen. Der Tierkonservator Leopold Martin (1815 bis 1885), der am Naturalienkabinett in Stuttgart wirkte, zeichnete darin ein bedrückendes Bild der damals schon voranschreitenden Artenvernichtung und leitete daraus die Forderung nach einem umfassenden Naturschutz ab. Noch, so Martin, »ist es Zeit, das Recht der Natur aufrecht zu erhalten, denn das Recht welches wir ihr angedeihen lassen, ist nicht nur unsere Weltbürgerpflicht, sondern auch eine Existenzfrage für uns selbst«.

Schon vorher hatte man das Wort »Naturschutz« verwendet, doch man hatte damit genau das Gegenteil gemeint, nämlich den Schutz, den die Natur bietet. Martin hingegen drehte den Begriff um und erklärte die Natur selbst zum schützenswerten Gut. Denn es reiche nicht, isolierten Tierschutz zu betreiben, schließlich benötigten Tiere bestimmte Habitate, etwa Wälder. Der Tierschutz müsse folglich durch Waldschutz ergänzt werden. Doch auch das genüge nicht, konsequenterweise gelange man daher schließlich zu einem umfassenden Naturschutz.

Natur schützen

Zu dessen konkreter Ausgestaltung machte Martin bereits wegweisende Vorschläge: »Für die Erhaltung einer urwüchsigen Natur überhaupt, wie für die der bereits selten gewordenen Tiere, erscheint es dringend notwendig, an geeigneten Orten unseres großen Vaterlandes Freistätten zu gründen, in denen die Tiere durch strenge Gesetzgebung vor der Vernichtung gesichert werden. Es wären solche Freistätten den geheiligten Orten unserer Vorfahren und denen vieler wilder Völkerstämme ähnlich, wo die Natur in jungfräulicher Abgeschiedenheit sich reorganisieren kann.«

Während in den Vereinigten Staaten mit dem Yellowstone-Nationalpark das erste derartige Schutzgebiet bereits 1872 gegründet wurde – was Martin begeistert kommentierte und als Verwirklichung seiner Idee bezeichnete –, machte sein Gedanke in Deutschland erst mit fast hundertjähriger zeitlicher Verzögerung Schule. Denn das deutsche Pendant zum Yellowstone-Nationalpark wurde erst 1970 eingerichtet, es ist der Nationalpark Bayerischer Wald. Immerhin: Kleinere Naturschutzgebiete hatte man im damaligen Deutschen Reich seit den 1920er Jahren ausgewiesen, und eine Reichsstelle für den Schutz von Naturdenkmälern existierte seit 1906.

Der Naturschutz, der 1935 erstmals auf gesamtstaatlicher Ebene im NS-Staat kodifiziert wurde, was den Naturschützern bis heute hämisch vorgehalten wird, ist in seiner 1976 modernisierten Form Teil des modernen Rechtsstaats. Er hat sich organisiert, professionalisiert und institutionalisiert. Es gibt inzwischen Institutionen, Behörden, Schutzgebiete und zum Glück ungezählte Naturfreunde, die sich als Naturschützer verstehen. Das von Martin umgeprägte Wort ist heute gängige Münze, das von ihm erstmals klar definierte Konzept Teil unserer Verfassung.

Doch der Naturschutz hat sich gewandelt. Selbstverständlich wird immer noch der Schutz eines bestimmten Gebietes, der Schutz bestimmter Arten propagiert und umgesetzt. Es geht dann im Kern darum, das betreffende sogenannte Schutzgut, wie es im Naturschutzrecht heißt, vor schädigenden Einflüssen zu bewahren. Dies ist ein Konzept, das vor allem abwehrt. In den Kernzonen eines Nationalparks lässt man Natur Natur sein. Der Mensch ist allenfalls als Besucher erlaubt. Das Resultat ist dann eine Form der Wildnis, die oft ein intensives Naturerleben ermöglicht, schon allein deshalb, weil die wildlebenden Tiere aufgrund des Fehlens von Verfolgung und Jagd weniger scheu sind als anderswo.

In einer ansonsten intensiv genutzten Natur sind solche »Freistätten«, wie sie Martin forderte, allerdings nur mit vielen Kompromissen realisierbar, jedenfalls in Europa. Zudem hat das Konzept den etwas problematischen Aspekt, dass es puristisch und rigide ist; Natur soll rein bewahrt werden, heißt das aber, dass Menschen vollständig aus solchen Gebieten verschwinden müssen? Auch zum Beispiel Menschen, die seit Jahrhunderten in den betreffenden Gebieten siedeln? Was ist mit den steten Wandlungen, die ja jedem noch so kleinen Stück Natur innewohnen, was ist, wenn, zum Beispiel aufgrund des Klimawandels, bestimmte Arten ein- und andere auswandern? Wird hier nicht Natur künstlich stillgestellt? Schon das zeigt, dass ein Konzept, das nur schädigende Einflüsse abwehrt, das Natur Natur sein lässt, zwar seine Berechtigung hat, aber Ergänzung durch etwas flexiblere Ideen benötigt.

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