Heft 887, April 2023

Abschied vom Feuer?

von Jens Soentgen
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Die Waldbrände in Brandenburg, an den Mittelmeerküsten, in Kalifornien, Australien und an anderen Orten weltweit haben das Feuer in die Medien gebracht. Und zugleich ist das wohl wichtigste langfristige Leitbild der europäischen Politik »zero emissions«, eine emissionsfreie Gesellschaft, die sozial gerecht und fair bis 2050 realisiert sein soll. Dieses Ziel bedeutet im Kern einen Abschied vom Feuer und damit ein Projekt von menschheitsgeschichtlicher Dimension, weil ein seit rund einer Million Jahre bestehender Pakt aufgelöst werden soll.

Feuer und Zivilisation

Der niederländische Soziologe Johan Goudsblom präsentierte 1992 in seinem Buch Fire and Civilization ein mehrdimensionales und anspruchsvolles Feuer-Denken, das feuerökologische, ethnologische und umwelthistorische Forschungsergebnisse gleichermaßen berücksichtigte und in einer Theorie des Zivilisationsprozesses zusammenführte, mit der er an Norbert Elias anschloss.1

Wie es bei Elias um die Erlangung von Kontrolle über die unwillkürlichen Regungen, über Zorn, Wut, Angst oder Scham ging, um den Zusammenhang von Soziogenese und Psychogenese, geht es bei Goudsblom um die allmähliche kollektive Kontrolle über ein bedrohliches Naturphänomen. Die Grundthese lautet: »Weil Menschen das Feuer gezähmt und es zu einem Teil ihrer eigenen Gesellschaften gemacht haben, sind diese Gesellschaften komplexer und die Menschen selbst zivilisierter geworden.«2 Entscheidend ist, dass es sich bei der Zähmung des Feuers um einen sehr langfristigen Prozess handelt; sie hat sich also nicht ein für allemal in ferner Vergangenheit vollzogen.

Goudsblom zeigt, dass dieser Prozess nicht nur eine Grundvoraussetzung der Industrialisierung darstellt. Bereits der Übergang zur Landwirtschaft, der in Europa im Zuge der neolithischen Revolution stattfand, setzte die Kontrolle des Feuers voraus. Denn diese Landwirtschaft beruhte auf Brandwirtschaft, also auf der Fähigkeit, durch das Feuer bestimmte Gelände von ihrer Vegetation zu befreien und für den Ackerbau tauglich, nämlich urbar zu machen. Von dem Moment an, in dem menschliche Gruppen das Feuer nutzten, bemühten sie sich zugleich darum, das spontane Feuer, das etwa durch Blitzschlag entsteht, und das übergriffige Feuer, das vom Herd aus die Hütte entflammt, unter Kontrolle zu bringen. All das erfordert Disziplin und Arbeitsteilung.3

So richtig und wertvoll diese Einsichten auch sind, Goudsbloms Feuersoziologie kann nicht einfach fortgeschrieben werden.4 Das liegt zum einen daran, dass er zwar die Technik- und Umweltgeschichte, nicht aber die Wissenschaftsgeschichte auswertet, wodurch die kognitive Bedeutung des Feuergebrauchs aus dem Blick gerät. Hinzu kommen konzeptionelle Schwächen. Goudsblom setzt einen rein materialistischen Feuerbegriff voraus, der aber für sein Projekt wenig zweckmäßig ist (dazu gleich noch ausführlicher). Schließlich impliziert sein Zähmungskonzept, dass die Kontrolle über das Feuer in der gegenwärtigen Gesellschaft ihren relativen oder absoluten Höhepunkt erreicht habe. Diese Annahme ist jedoch alles andere als plausibel. Das Feuer ist nicht gezähmt. Die gemeinsame Zukunft von Mensch und Feuer ist heute nicht nur offen, sie ist problematischer als je zuvor.

Mir scheint es daher sinnvoller, offener von einem Pakt oder einem Bund zu sprechen, den die Menschen mit dem Feuer geschlossen haben. Denn anders als der Begriff der Zähmung bezeichnet der des Pakts eine Beziehung auf Augenhöhe. Gleichwohl hat auch ein Pakt eine Entwicklungsperspektive, lässt er sich doch ausgestalten und vertiefen. Und schließlich wissen wir, dass Pakte mitunter auch einen Haken haben können.

Feuer als Verwandler, als Feind und als Freund

Goudsblom hält sich mit dem Bemühen, einen Begriff des Feuers zu entwickeln, nicht allzu lange auf, ihm reicht die aus naturwissenschaftlichen Lexika entnommene Bestimmung, dass das Feuer ein chemischer Prozess ist, der Wärme und Licht freisetzt und dabei komplexe organische (das heißt kohlenstoffhaltige) Strukturen auflöst und in Asche und Rauch verwandelt. Doch diese materialistische Definition des Feuers, die in ihren wichtigsten Grundzügen im späten 18. Jahrhundert entwickelt wurde, berücksichtigt ausschließlich die Stellung des Feuers im System stofflicher Transformationen. Für eine philosophische und kulturwissenschaftliche Feuerforschung bietet es sich aber eher an, von einem ökologischen Feuerbegriff auszugehen. Dabei wird das Feuer aus seiner Beziehung zu den Lebewesen und ihren Ökosystemen verstanden und anschließend gefragt, was geschieht, wenn Menschen beginnen, das Feuer kulturell zu nutzen.

Feuer ist für die Lebewesen nie eine neutrale Sache, sondern wird als zugleich bedrohlicher und faszinierender Akteur erlebt, durch sein Flackern, sein Rauschen, Knacken und Fauchen, sein Voranschreiten, durch seine Hitze und sein Leuchten hat es etwas Autonomes und übt eine bisweilen gefährlich hypnotisierende Kraft auf Menschen wie auf viele andere Wirbeltiere und Insekten aus. Feuer ist kein Lebewesen, und doch ist es den Lebewesen sehr ähnlich, weil es einen Stoffwechsel hat, mit Rauch und Asche regelrechte Exkremente aufweist, weil es sich bewegt und seiner Nahrung geradezu hinterherläuft.5

An Land ist das Feuer der mächtigste Universalfeind aller Organismen, denn es bedroht sie alle, welcher Gattung sie auch angehören, wie groß oder klein sie auch sein mögen. Daher ist auch in allen Tieren die Pyrophobie, das Verhaltensprogramm, vor einem voranschreitenden Feuer zu fliehen, tief verankert. Das Feuer seinerseits hat von den Lebewesen zunächst nichts zu fürchten. Sein einziger Feind ist das Wasser, das ihm in Gestalt von Bächen, Flüssen oder Seen Einhalt gebieten kann und das es als Regen bremst und schließlich löscht.

Das Feuer ist eingebrannt in das große Geflecht des Lebens an Land, das es als dessen universeller Antagonist seit Urzeiten herausfordert; durch die Paläobotanik wissen wir, dass es so alt ist wie die ältesten Landökosysteme; als die ersten Pflanzen das Land besiedelten, traf sie schon der Blitz und setzte sie in Flammen. Alle Landlebewesen sind an das Zusammenleben mit dem Feuer notgedrungen angepasst: die einen durch dicke, feuerresistente Rinden, wie sie etwa die mediterrane Korkeiche aufweist, die anderen durch eine feine Nase für Rauch, die auch der Mensch besitzt, und durch viele weitere Anpassungen in der Physiologie und im Verhalten. Es dürfte kein Zufall sein, dass die universellen Warnfarben der Landlebewesen – rot, orange, gelb in Kombination mit schwarz – gerade die Farben des Feuers sind.

Feuer vernichtet aber nicht nur, es wärmt und erhellt zugleich. Brandstätten sind Fundstätten; Raubtiere begeben sich dorthin auf die Suche nach Gebratenem. Die salzige Asche hat ebenfalls viele Liebhaber, verkohltes Holz lockt Insekten an, zum Beispiel den Schwarzen Kiefernprachtkäfer, dessen Weibchen Feuer besser orten kann als jedes Messgerät. Wälder, in denen es gebrannt hat, entwickeln schon kurze Zeit später eine üppige, saftige Vegetation, es gibt viele Pflanzen und Pilze, die auf verbrannten Böden am besten, manchmal sogar nur dort gedeihen; das wiederum lockt Pflanzenfresser an die Brandstätte. Neben der zerstörerischen wohnt dem Feuer also auch eine positive Verwandlungskraft inne.

Vor ungefähr einer Million Jahren begannen die Menschen, sie für sich zu nutzen. Als Licht- und Wärmespender, auch als Schutzmacht und Helfer bei der Jagd, wurde das Feuer Teil ihrer Gemeinschaft. Seine Verwandlungskraft bewährte es, indem es Speisen verbesserte und konservierte und schließlich sogar den Speisezettel erweiterte, weil das Feuer in der Lage ist, bittere, ungenießbare oder gar giftige Nahrungsmittel in zarte und süße zu verwandeln (das Kochen von Kartoffeln ist nur eines von zahllosen Beispielen).

Von den Nahrungsmitteln kam man zu den Materialien: Aus Lehm wurde Ton gebrannt, aus Birkenrinde stellte man einen Klebstoff her, aus gelbem Sand roten Ocker. Die Verwandlungskraft des Feuers ist nahezu grenzenlos. Man gibt ihm, wie es bei Plinius heißt, Sand, und es macht Glas daraus, man gibt ihm Erze, es schafft Metalle.6 Ein noch älterer Text, der im Corpus Hippocraticum überliefert wird,7 weist auf die allgemeine Bedeutung des Feuers für die menschliche Gesundheit hin und verehrt den ersten Koch als ersten Arzt, weil durch die gesottene, gebackene, gebratene oder gegrillte Nahrung das Essen rundum gesünder wurde.8

Das Feuer verwandelt Stoffe nicht nur, veredelt sie und macht sie brauchbarer, es verwandelt den Raum selbst, gibt einer Gruppe von Menschen einen Mittelpunkt, es stiftet eine neue, meditative Zeit. Die Lagerfeuer der Altsteinzeit waren zweifellos der Ort, an dem sich die Sprache von der Bindung an die unmittelbare Situation emanzipierte, hier, in der hellen Dunkelheit wurde zuerst über Abwesendes gesprochen, hier wurden die ersten Geschichten erzählt, die ersten Lieder gesungen, die ersten Kunstwerke geschnitzt und gemalt und wohl auch erste Schattenspiele aufgeführt. Mit dem Feuer emanzipieren sich die Menschen in der Natur von der Natur und erschaffen sich ihren eigenen, nicht mehr natürlich, sondern kulturell bestimmten Raum, ihre eigenen Materialien und ihre eigene Zeit.

In einem sehr langsamen Prozess, der ungefähr vor einer Million Jahren begann, näherten sich die Menschen immer mehr dem Feuer an. Vor ungefähr 100 000 Jahren lernten sie schließlich, es selbst zu erzeugen. Ihre Biotope sind seither Pyrotope, ihre Wohnstätten Feuerstätten. Und damit wechselten sie zugleich, ökologisch gesehen, die Fronten, denn nun wurden sie Juniorpartner der größten Macht an Land. Indem sie diese eine Bindung an eine Naturmacht immer fester zogen, lockerten sie ihre Bindungen an die übrige Natur und erweiterten so ihre Bewegungs- und Lebensmöglichkeiten. Unsere Physiologie und sogar unsere Anatomie ist an das Feuer angepasst; denn zum Beispiel die relativ kleinen Zähne und Kiefer können wir uns nur leisten, weil das Feuer uns einen großen Teil der Kauarbeit abnimmt.

Durch den gezielten Umgang mit dem Feuer schufen sich die Menschen eine ökologische Nische. Statt sich mit den evolutiv gewachsenen Ordnungen ihrer ökologischen Umwelt zu begnügen, erschlossen sie sich neue Nahrungsquellen, erweiterten ihren Lebensraum, bis er sogar vereiste Zonen einschloss, sie verkürzten die Nächte und verlängerten die Tage, schufen neue Werkstoffe und Medikamente. Mit dem Feuer konnten Menschen in ihrer Umwelt nicht nur tabula rasa machen, sondern darüber hinaus gänzlich neue Ordnungen in der Natur etablieren. Jeder Fortschritt der Pyrotechnik ist auch ein Fortschritt in der Dominanz der Menschen gegenüber der Natur; wie die Erfindung der Metalle, aber auch die Geschichte der Feuerwaffen, der Explosivstoffe und der Dampfmaschine zeigt.

Gaston Bachelard schrieb in seiner Psychoanalyse des Feuers (1949): »Durch das Feuer verändert sich alles. Wenn man will, dass alles sich ändert, ruft man das Feuer.« Diese Formulierung ist auch deshalb treffend, weil Bachelard ausdrücklich sagt, dass das Feuer gerufen wird; man nimmt es nicht, wie man ein Werkzeug nimmt. Es ist mehr als ein Ding, es ist eine Macht. Gerade deshalb kann man ja mit ihm im Bunde sein.

Feuer als Lehrmeister

Johan Baptista van Helmont, ein Arzt, Alchemist und Paracelsiker des 17. Jahrhunderts, schrieb: »Das Feuer ist weder ein Element noch eine Substanz, vielmehr ist es der Tod in der Hand des Künstlers, zu großartigem Nutzen gegeben.«9 Der Tod ist dabei, wie in der Alchemie üblich, nicht als absolutes Ende, sondern als Durchgang zu neuem Leben zu denken.

Van Helmonts bildhafte Definition steht im Zusammenhang einer methodischen Reflexion, in der er zeigt, dass das Feuer für die neuere Wissenschaft auch heuristische Bedeutung hat. Es ergänzt die traditionelle Methode, neues Wissen zu erlangen, und wird zentraler Teil der modernen ars inveniendi. Feuerkunst wird zur Findekunst und ersetzt beziehungsweise ergänzt die antike Logik und Topik. Feuer ist seit der wissenschaftlichen Revolution im 16. und 17. Jahrhundert nicht nur für den praktischen, sondern auch für den theoretischen Weltzugang zentral. Ein Ding erkennen bedeutet, jedenfalls in den Naturwissenschaften, zu verstehen, wie es geworden ist, und auch, was aus ihm noch alles werden kann. Das Feuer aber ist wie kein anderes Medium fähig, rasch umfassende und doch präzise steuerbare Veränderungen in der materiellen Welt herbeizuführen. Ignis mutat res, das Feuer verwandelt die Dinge.

Diese Verwandlungen sind so lehrreich und so präzise steuerbar, dass die moderne Naturwissenschaft ohne den Gebrauch des Feuers nicht denkbar ist. Hätte die Evolution der Menschen unter Wasser stattgefunden, dann wären die Möglichkeiten, Wissenschaft zu treiben, ganz erheblich eingeschränkt gewesen.10 Sie wären auf ein rein deskriptives, beschreibendes Vorgehen beschränkt geblieben, ähnlich dem, wie es auch in der Antike üblich war. Unter Wasser hätten die Menschen keine Chance gehabt, sich zum »dominant animal« aufzuschwingen.11 Man kann die durchdachte, philosophische Pyrotechnik in den Laboren mit Foucault als historisches Apriori eines zentralen Teils der modernen Naturwissenschaft, nämlich ihrer Materietheorie, bezeichnen.

Das erste Phänomen sei ein Pyromen gewesen, heißt es bei Gaston Bachelard. Tatsächlich überwinden die frühneuzeitlichen Naturforscher mit dem Feuer das »Gegebene«. Mit ihm stoßen sie vor in eine Sphäre der möglichen Natur. In der Renaissance kam es zu einer Verbindung des philosophischen Fragens mit der Feuerkunst. Öfen wurden nun nicht nur gebaut und beschickt, um zu wärmen oder zu erzeugen, sondern um das Wissen zu vermehren, man sprach geradezu von »Philosophischen Öfen«. Dass sich die neue Wissenschaft auch und vor allem durch das Feuer von der antiken Wissenschaft unterscheidet, war ihren Akteuren bewusst. Paracelsus setzte es in die prestigeträchtige Rolle eines Lehrers ein und forderte, man müsse die Dinge mit den Augen des Feuers ansehen.12

Der Paracelsist Heinrich Khunrath verfasste eine erste Kulturgeschichte der Feuernutzung, und der schon zitierte Jan Baptista van Helmont bezeichnete sich geradezu als »philosophus per ignem«, als Philosoph durch das Feuer. Er spottete über die Logik des Aristoteles, die nicht in der Lage sei, auch nur die einfachsten neuen Erkenntnisse hervorzubringen. Stattdessen gebe es eine ganz andere Erkenntnisquelle, die in der Antike nicht genutzt worden sei: »in den Öfen lesen wir«, also nicht in den Schriften antiker Autoren, was zuvor als Königsweg für die Erlangung sicheren Wissens galt. Wenn es um Naturphänomene gehe, so van Helmont, gebe es alternativ zum Beten und zum Anklopfen, durch das sich der erkenntnissuchende Mensch an Gott und an wissende Mitmenschen wendet, noch einen weiteren Weg zur Einsicht, nämlich das Forschen mit dem Feuer.13

»Sine ignem nihil operamur« (Ohne Feuer tun wir nichts) – dieser Satz der Paracelsisten kann noch heute unverändert über der Tür eines modernen Chemielabors hängen, der Chemie-Nobelpreisträger Roald Hoffmann schlug nicht ohne Grund die Flamme als Symbol der Chemie vor. Durch die Verbindung von Kopf, Hand und Feuer steigert sich die Anwendbarkeit der Ergebnisse, denn was das Feuer im Kleinen vollbringt, kann es auch im Großen tun. Es gelingt der modernen Naturwissenschaft, durch ihre hochentwickelte Pyrotechnik von den endlichen Stoffen, die in einer bestimmten Umgebung zu finden sind, einen fast unendlichen Gebrauch zu machen.

Zwar erwies es sich als unmöglich, Gold, das einst wertvollste Metall, künstlich herzustellen, doch das allgemeine Programm, Wertloses in Wertvolles umzuschmelzen, wurde nie aufgegeben. Die moderne Materietheorie hat die Eingriffstiefe in natürliche, insbesondere auch in ökologische Prozesse in einem nie dagewesenen Maße gesteigert. Aus wenigen Substanzarten, zum Beispiel dem Steinkohleteer, dem Erdöl oder Erdgas, werden durch die Feuerkunst unabsehbar viele. Nahezu jedes Material, mit dem wir hantieren, ist entweder gebrannt, erschmolzen oder destilliert, vom Brillenglas über den Stift, die Tastatur des Computers bis zur Kleidung, die ebenfalls zunehmend aus Kunstfasern besteht. Fast alle dieser Materialien sind zugleich biologisch schwer abbaubar. Der vom Feuer vermittelte Stoffwechsel der Menschen produziert Abluft und Abfälle, die im allgemeinen Stoffwechsel der Natur nur schwer weiterzuverwenden sind.

Die Asche aller Feuer

Die Frage, wie viele Feuer eigentlich weltweit brennen, lässt sich schon deshalb nicht beantworten, weil die meisten Brände im Verborgenen vor sich gehen, in Industrieanlagen, in Motoren, Gasturbinen oder auch in Heizungsboilern. Dennoch lässt sich die Größenordnung statistisch erstaunlich exakt bestimmen, und das über lange Zeiträume. Denn wo immer Wälder (beziehungsweise Biomasse) abgebrannt, wo Torf, Kohle, Erdgas, Erdöl oder Müll verfeuert werden, entsteht, neben Rauch (Feinstaub) und Wasserdampf, die beide rasch aus der Atmosphäre verschwinden, Kohlendioxid.

Dieses Gas ist die eigentliche, abstrakte Asche aller Feuer, die sich weltweit verteilt und mehrere Jahrzehnte in der Atmosphäre bleibt. Weil heute in einem Maß wie nie zuvor in der Geschichte des Planeten gebrannt wird, steigt die sogenannte Keeling-Kurve, die den Kohlendioxidgehalt der Atmosphäre misst, und auch ihre Steigung steigt. In den letzten Jahren des 19. Jahrhunderts überschritten die globalen Gesamtemissionen erstmals die Marke von einer Milliarde Tonnen jährlich.14 Als einer der Ersten wies der Chemiker Svante Arrhenius darauf hin und sagte zugleich vorher, dass aus diesen Emissionen einst eine globale Erwärmung resultieren werde. Er ging angesichts der damaligen Gesamtbeträge allerdings noch davon aus, dass es viele hundert Jahre dauern werde, bis sich diese so weit aufsummiert hätten, dass die Erwärmung auch nur messbar würde.

Doch es kam anders, denn rasch verdoppelten sich die Emissionen. Und die Verdoppelung verdoppelte sich wieder. 1960 waren es zwölf Milliarden Tonnen, Anfang der 1990er Jahre 25 Milliarden Tonnen,15 dann, trotz Corona-Pandemie, 35 Milliarden Tonnen im Jahr 2020; 2022 waren es 40,6 Milliarden Tonnen. Es handelt sich also um einen exponentiellen Verlauf. Zwar wechseln die Akteure, nur die USA zählen heute wie einst zur Spitzengruppe der Hauptemittenten, doch das Gesamtbild bleibt stabil: Es gelangt immer mehr Kohlendioxid in immer kürzerer Zeit in die Luft und befördert den Klimawandel, der seinerseits die Häufigkeit großer Waldbrände steigern wird, weil er zu vermehrten Hitzewellen, Dürren und stärkeren Winden führt, die ihrerseits die besten Voraussetzungen für große Waldbrände und damit für noch mehr CO2 sind. Die Wirklichkeit des globalen Brennens – zu etwa einem Drittel tragen brennende Wälder und Moore zur Steigerung des Kohlendioxids bei – sprengt alle klimapolitischen Beschlüsse.

In dieser Situation findet in einigen westlichen Gesellschaften das eingangs erwähnte Leitbild der »klimaneutralen« Gesellschaft beziehungsweise einer »dekarbonisierten, emissionsfreien Wirtschaft« breite Zustimmung. Im Kern ist die klimaneutrale Gesellschaft eine, die den Pakt mit dem Feuer auflöst, weil sie kohlenstoffbasierte Verbrennungsprozesse drastisch zurückdrängt und verabschiedet. In Deutschland wurde dieses Leitbild insbesondere vom Wissenschaftlichen Beirat Globale Umweltveränderungen (WBGU) propagiert, der davon ausgeht, dass eine solche Gesellschaft sich durch friedliche, sozial gerechte Transformation innerhalb weniger Jahrzehnte global einrichten lasse.16

Doch solche Zukunftsprojektionen sind Utopien in wissenschaftlichem Gewand, und zwar nicht deshalb, weil sie einen politischen und gesellschaftlichen Zielzustand imaginieren, dessen Verwirklichung sehr unwahrscheinlich ist (auch im Jahr 2021 stammten mehr als 80 Prozent der weltweit erzeugten Energie aus Verbrennungsprozessen; nahezu alles, womit wir hantieren, worauf wir blicken, ist gekocht, gebacken, destilliert, erschmolzen, von den Seiten der Zeitschriften und Bücher und ihrer Druckerschwärze bis hin zu Häusern, Straßen, Fabriken, Fahrrädern, Elektroautos, Flugzeugen, Raumfähren und Raumstationen), sondern vor allem deshalb, weil hier eine Welt versprochen wird, in der mit der Beseitigung eines Kernübels auch alle anderen verschwinden und außerdem für das bewahrenswerte Gute kein Schaden entsteht.17 Tatsächlich aber führt der Ausstieg aus Verbrennungsprozessen und der Umstieg auf erneuerbare Energien nicht nur zu Konflikten mit ökonomischen oder sicherheitspolitischen Zielen, sondern, wie man am Beispiel der Wasserkraft zeigen kann, auch zu innerökologischen Konflikten zwischen Klimaschutz und Biodiversitätsschutz.

Wer sich nur mit dem Wünschenswerten befasst, verliert das Gefühl für das Wahrscheinliche und versäumt, sich darauf einzustellen. Wahrscheinlich aber ist, dass die weltweiten Emissionen in den nächsten zehn bis zwanzig Jahren nicht drastisch sinken werden, sondern sich vielmehr auf dem erreichten hohen Niveau stabilisieren, trotz des gleichzeitigen weltweiten Ausbaus erneuerbarer Energien. Und das bedeutet, dass das in Paris vereinbarte 1,5-Grad-Ziel verfehlt werden wird; der Klimawandel wird sich weiter entfalten.

Was bedeutet das für unser Zusammenleben mit dem Feuer, für unsere Feuerkultur? Das Feuer, das vollständig funktionalisiert schien, wird im 21. Jahrhundert in seiner ursprünglichen Wildheit und Bedrohlichkeit zurückkehren. Denn mit den zu erwartenden vermehrten Dürren und stärkeren Winden können sich Brände künftig besser entfalten und werden auch in Zonen präsent sein, in denen sie bislang kaum bekannt waren. Schon im Jahr 2022 waren stärkere und größere, auch hartnäckigere Brände nicht nur in Europa, sondern weltweit zu beobachten, von Australien über Nord- und Südamerika bis in die Region der Arktis. Laut einer aktuellen UNEP-Studie wird sich dieser Trend im 21. Jahrhundert fortsetzen.18

Statt auf dem Weg zu einer feuerlosen Gesellschaft befinden wir uns in Europa also eher auf dem Weg zu einer feuerlöschenden Gesellschaft. Das Problem wird dadurch verschärft, dass der einzige ernstzunehmende Feind des Feuers, das Wasser, aufgrund hoher sozialer Nutzung vielerorts knapp wird. Oft können Brände nicht mehr gelöscht, sondern allenfalls noch gelenkt werden. Daher geht es auch im übertragenen Sinn ums Feuerlöschen, weil Schäden und Verluste kompensiert werden müssen.

Die »high fire world« der Zukunft wird andererseits aber auch die vielfach geforderten feuerarmen Regionen kennen. Das Ideal der modernen, feuerlosen Gesellschaft wird in kleineren, abgeschotteten Zonen, die ihren Feuerbedarf auslagern, durchaus realisiert werden. Denn in vielen Städten Europas wird sich der Rückzug der Öfen und Essen und der Verbrennungsmotoren fortsetzen. Das hat klimapolitische, aber auch umweltmedizinische Gründe, weil der Feinstaub, der je nach Brennstoff bei fast allen Verbrennungsprozessen entsteht, die Gesundheit all derer beeinträchtigt, die ihn einatmen. Die Feuerlandkarte der Zukunft wird also flackern und fleckig sein; und zwar auf verschiedenen Maßstabsebenen, auch global wird es eher feuerarme und extrem feuerreiche Regionen geben. Schon jetzt werden ja feuerintensive Produktionen (etwa von Stahl und anderen Metallen, die zum Beispiel für Elektromobilität notwendig sind) zunehmend in Ostasien, Südasien und Südostasien erledigt.19 Zu rechnen ist nicht mit einer homogenen, sondern mit einer »patchy high fire world«. Auch unter Wasser wird die insgesamt steigende Feuerdichte noch spürbar werden, als Erwärmung und Versauerung.

Johan Goudsblom schrieb auf der letzten Seite von Feuer und Zivilisation: »Jede Generation muß aufs Neue lernen, mit dem Feuer umzugehen.« Dem kann man sich anschließen – sofern man sich daran erinnert, dass Lernen auch die Bereitschaft einschließt, Überzeugungen zu revidieren. Solange das Leitbild eines kurz bevorstehenden globalen Abschieds vom Feuer den intellektuellen Diskurs beherrscht, ist der gesellschaftliche Lernprozess, der zu einem neuen, besonneneren Umgang mit dem Feuer führen könnte, nicht einmal in Gang gekommen.

Anmerkungen

1

Zwar sind die Darstellungen des US-amerikanischen Umwelthistorikers Stephen J. Pyne (zuletzt The Pyrocene. How We Created an Age of Fire, and What Happens Next. Oakland: University of California Press 2021) aktueller und weitaus umfangreicher. Seine Arbeiten zum Feuer sind brillant und Pflichtlektüre für alle am Thema Interessierten. Allerdings ist Pyne im Gegensatz zu Goudsblom recht genügsam, was Theorie angeht, ihm reichen statische Typisierungen in Gestalt von Dreiteilungen, um seinen heißen Stoff zu gliedern (drei Feuerzeitalter, drei Feuerparadoxe, drei Feuerformen usw.).

2

Johan Goudsblom, Feuer und Zivilisation. Übersetzt von Heike Hammer u. Elke Korte. Frankfurt: Suhrkamp 1995.

3

Worauf auch andere Feuer-Denker hingewiesen hatten, etwa der Geograf und Ethnologe Karl Weule (Die Kultur der Kulturlosen. Stuttgart: Kosmos 1910).

4

Im Folgenden fasse ich Überlegungen aus meinem Buch Pakt mit dem Feuer. Philosophie eines weltverändernden Bundes (Berlin: Matthes & Seitz 2021) zusammen.

5

Schon Aristoteles hat darauf hingewiesen (De anima II 4, 416a9-18).

6

Plinii Secundi Naturalis historia. Hrsg. v. Detlef Detlefsen. Bd. V. Berlin: Weidmann 1873.

7

Über die Alte Medizin. In: Hippokrates, Sämmtliche Werke. Bd. 1. Übersetzt u. kommentiert v. Robert Fuchs. München: Verlag Dr. H. Lüneburg 1895.

8

»Kochen oder Braten über offenem Feuer erleichtern den enzymatischen Aufschluss der Nahrung und entlasten in der Folge den Verdauungstrakt.« Hermann Parzinger, Die Kinder des Prometheus. Eine Geschichte der Menschheit vor der Erfindung der Schrift. München 2016. Vgl. auch Richard Wrangham, Feuer fangen. Wie uns das Kochen zum Menschen machte – eine neue Theorie der menschlichen Evolution. Aus dem Englischen von Udo Rennert. München: DVA 2009.

9

»Ignem negavi elementum, & substantiam: sed mortem in manu artificis, ad grandes usus datam.« (Jan Baptista van Helmont, Complexionem atque Mistionum Elementalium Figmentum, No.2. In: Ders., Opera Omnia).

10

Vgl. Konstantin Siegmann, Feuer und Mensch. Von der Altsteinzeit zum »Global Change«. In: Vierteljahrsschrift der Naturforschenden Gesellschaft in Zürich, Nr. 147/2, 2002.

11

Paul R. Ehrlich /Anne H. Ehrlich, The Dominant Animal. Human Evolution and the Environment. Washington: Island Press 2008; vgl. auch Charles Richet, Le Roi des Animaux. In: Ders., L’homme et l’intelligence. Paris: Félix Alcan 1884.

12

So Paracelsus besonders im Volumen Paramirum (Theophrastus Paracelsus, Volumen Paramirum und Opus Paramirum. Hrsg. v. Franz Strunz. Jena: Eugen Diederichs 1904).

13

So im dritten Kapitel von De Lithiasi. In: Jan Baptista van Helmont, Opera Omnia.

14

Theodor Lewald (Hrsg.), Weltausstellung in St. Louis 1904. Amtlicher Katalog des Deutschen Reichs. Berlin: Stilke 1904. Aus den genannten Mengen der geförderten Steinkohle lässt sich die globale Kohlendioxidemission errechnen, nicht berücksichtigt sind in der obigen Schätzung die Emissionen durch Brandrodung, die auch vor 120 Jahren bereits recht beträchtlich gewesen sein dürften, aber statistisch nicht erfasst sind.

15

Beide Zahlen aus Hermann Henssen, Energie zum Leben. Die Nutzung der Kernkraft als ethische Frage. München: mvg-Verlag 1993.

16

Vgl. das WBGU-Sondergutachten Klimaschutz als Weltbürgerbewegung von 2014 (www.wbgu.de/fileadmin/user_upload/wbgu/publikationen/sondergutachten/sg2014/wbgu_sg2014.pdf).

17

Vgl. Aurel Kolnai, The Utopian Mind and Other Papers. A Critical Study in Moral and Political Philosophy. Edited by Francis Dunlop. London: Athlone 1995.

18

United Nations Environment Programme, Spreading like Wildfire: The Rising Threat of Extraordinary Landscape Fires. A UNEP Rapid Response Assessment. Nairobi 2022.

19

Vgl. das instruktive Kapitel »Asianizing the Anthropocene« in dem herausragenden Werk von Christoph Antweiler, Anthropologie im Anthropozän. Theoriebausteine für das 21. Jahrhundert. Darmstadt: WBG 2022.

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