Nachhaltigkeit und Freiheit
von Jens SoentgenDie historischen Darstellungen des Begriffs der Nachhaltigkeit beginnen in Deutschland stets mit dem sächsischen Bergrat Hans Carl von Carlowitz (1645–1714), in dessen Werk Sylvicultura oeconomica über die Prinzipien der Forstwirtschaft (1713) das adjektivisch gebrauchte Partizip »nachhaltend« an einer einzigen Stelle, noch dazu in einem recht verschachtelten Satz, auftaucht. Der Journalist und Autor Ulrich Grober erklärte ihn in seinem Buch Die Entdeckung der Nachhaltigkeit gar zu deren Erfinder. Das fand Anklang, nicht zuletzt beim damaligen Bundesminister Ronald Pofalla, der 2013 unter dem Titel 300 Jahre Nachhaltigkeit »made in Germany« entsprechende Jubiläumsfeierlichkeiten ausrichten ließ. Inzwischen gibt es eine Sächsische Hans-Carl-von-Carlowitz-Gesellschaft zur Förderung der Nachhaltigkeit, einen Hans-Carl-von-Carlowitz-Nachhaltigkeitspreis, Carl-von-Carlowitz-Vorlesungen und in Leipzig einen Hans-Carl-von-Carlowitz-Kindergarten.
So schön die Begeisterung für den sächsischen Bergrat ist – dass er die Nachhaltigkeit erfunden habe, ist selbst eine Erfindung. Carlowitz versichert mehr als einmal, gerade keinen innovativen Gedanken formuliert zu haben. Vielmehr widmet er das gesamte achte Kapitel seines Werks dem Nachweis, dass das, was er vorschlägt und in immer neuen Formulierungen vorträgt, nämlich aktiv neue Bäume zu pflanzen, wenn man auch in Zukunft Holz haben will, keine riskante und unerprobte Neuerung, sondern eine uralte und anderswo längst praktizierte Idee sei.
Carlowitz verweist nicht nur auf die Bibel, sondern ausführlich etwa auch auf die Edikte Ludwigs XIV., in denen schon »fast das gantze Summarium unsers Vorhabens zu finden« sei. Die Carlowitz-Begeisterung ist im Übrigen auch deshalb problematisch, weil sie dazu geführt hat, dass sich das Nachhaltigkeitsdenken nahezu ausschließlich mit der Forstbewirtschaftung auseinandersetzte. Wenn man Nachhaltigkeit so eng denkt, schrumpft sie jedoch zu einem bloßen Managementprinzip.
Der Begriff Nachhaltigkeit
Nachhaltigkeit ist ein normatives Prinzip, das, anders als etwa die Prinzipien der Gleichheit oder Gerechtigkeit, in erster Linie nicht mit der sozialen Mitwelt, sondern mit der ökologischen Umwelt zu tun hat. Zwar gibt es seit Längerem Tendenzen, den Begriff aufzuweichen, man spricht von kulturellen, spirituellen, ästhetischen Dimensionen der Nachhaltigkeit. Mit den 17 Sustainable Development Goals der UN, die 2016 proklamiert wurden, wird das auf die Spitze getrieben; die meisten der dort genannten Ziele beziehen sich eher auf Entwicklungs- und Sozialpolitik. Der Kern des Nachhaltigkeitsbegriffs ist aber unbestritten ökologisch.
Denn es geht dabei primär um einen bestimmten Umgang mit Ressourcen, ein Wort, das abgeleitet ist vom lateinischen »resurgere«: sich wieder aufrichten. Nachhaltig ist, mit den Dingen, die uns gestatten, uns wieder aufzurichten, so umzugehen, dass sie sich selbst wiederaufrichten können. Der Wald ist dafür ein gutes Beispiel, weil er sich bei nachhaltiger Nutzung innerhalb von Jahrzehnten regenerieren kann. Ähnliches gilt aber auch für Grundwasser oder Fließgewässer, fruchtbare Böden, Ökosysteme, marine Fischgründe, reine Luft, Artenvielfalt und so weiter. Gegenbegriffe zu »Nachhaltigkeit« sind Raubbau, Ressourcenverschwendung, Misswirtschaft oder Übernutzung.
Eine neuere rechtswissenschaftliche Publikation fasst es so: »Eine (ökologische) Ressource soll nur so stark beansprucht werden, wie sie selbst nicht gefährdet wird.« Nachhaltendes Verhalten ist vorsorgend, weil es heute schon vorhält, was morgen erst gebraucht wird. Vorgesorgt wird, indem man aktiv nachhält, also zum Beispiel nachpflanzt oder der Ressource immer wieder Zeit gibt, sich selbst zu erneuern und dafür die Voraussetzungen schafft. Nicht alle ökologischen Ressourcen können sich allerdings regenerieren. Sand und Kies, die einmal zu Beton verarbeitet wurden, bilden sich nicht in absehbarer Zeit nach und können auch kaum recycelt werden; hier fordert die Norm der Nachhaltigkeit größtmögliche Sparsamkeit im Verbrauch.
Berühmt geworden ist ein Satz im Brundtland-Bericht von 1987, der Nachhaltigkeit als Prozess definiert, der »die Bedürfnisse der gegenwärtigen Generation befriedigt, ohne die Möglichkeiten künftiger Generationen, ihre Bedürfnisse zu befriedigen, zu beeinträchtigen«. Man sieht, dass es um Solidarität auch mit Abwesenden, vor allem Ungeborenen, geht und das Nachhaltigkeitsprinzip deshalb nicht einfach beziehungslos neben anderen Prinzipien steht. Heute ist das Konzept der Nachhaltigkeit rechtlich vielfach verankert, manche Staaten, wie etwa Neuseeland, haben ihm sogar einen zentralen Status verliehen.
Nicht Wort-, sondern Ideengeschichte
Es gibt also guten Grund, sich mit der Geschichte der Nachhaltigkeit zu befassen, solange man sie nicht verengt. Sinnvoller als eine bloße Wortgeschichte ist eine Ideengeschichte. Sie dient nicht nur der Herleitung, sondern kann auch dabei helfen, das Konzept weiterzuentwickeln.
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