Jens Soentgen im Merkur

Jens Soentgen, geb. 1967, Philosoph und Chemiker. Leiter des Wissenschaftszentrums Umwelt der Universität Augsburg. 2021 erschien "Pakt mit dem Feuer. Philosophie eines weltverändernden Bundes", 2022 "Staub. Alles über fast nichts".
19 Artikel von Jens Soentgen

Das Verschwinden der Wasserfälle

Am tosenden Rheinfall bei Schaffhausen stand 1791 als damals junger Mann der Maler Joseph Anton Koch, ergriffen und staunend, wie der Eintrag in seinem Tagebuch dokumentiert: »Gleich dem wilden Strom wallte mein Blut, pochte mein Herz. Es schien mir als riefe mir der Gott des Rheins vom zackigsten Fels zu: Steh auf, handle […] stemme dich gewaltig gegen Despotismus, reiß auseinander die schimpflichen Bande, welche dich fesseln, sei unerschütterlich […] in der Verteidigung der Freiheit der Menschheit.«1 Die

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Wunden und Wälder

Wie ist das passiert? Narben sind Erinnerungsorte und Erzählanlässe. Weil sie stets einen Bezug zu Ereignissen und Geschichten aufweisen, hat sich nicht nur die Medizin, sondern auch die Rhetorik schon frühzeitig mit ihnen befasst. Narben zur Schau zu stellen ist eine alte kulturelle Praxis. Tatsächlich war es bei Reden im Alten Rom nicht selten, dass Politiker auf ihre in diversen Feldzügen empfangenen Wunden verwiesen oder diese gar vorzeigten, andererseits die Narbenlosigkeit ihrer Kontrahenten

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Meer und Land

Was ist die typische Umgebung der Menschen und welche Form hat sie? Man könnte, mit Blick auf die letzten Arbeiten von Bruno Latour sagen, dass Menschen »earthbound« sind.1 Dem hat sich jüngst Peter Sloterdijk angeschlossen: »Das seit 1927 philosophisch so bezeichnete In-der-Welt-Sein ist entweder eine hohle Formel, oder es bedeutet: Auf-Gaia-Sein und Dasein in der sensiblen Zone.«2 Mir scheint eher das Latour-Sloterdijk’sche Auf-Gaia-Sein eine hohle Formel zu sein. Denn was soll »Auf-Gaia-Sein« bedeuten? Es

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Vom Naturschutz zur Produktion von Natur

Der Begriff »Naturschutz« wurde in seiner heutigen Bedeutung im deutschen Sprachraum erstmals in einer Serie von Artikeln verwendet, die zwischen 1871 und 1872 in einer Jagdzeitschrift erschienen. Der Tierkonservator Leopold Martin (1815 bis 1885), der am Naturalienkabinett in Stuttgart wirkte, zeichnete darin ein bedrückendes Bild der damals schon voranschreitenden Artenvernichtung und leitete daraus die Forderung nach einem umfassenden Naturschutz ab.1 Noch, so Martin, »ist es Zeit, das Recht der Natur

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Abschied vom Feuer?

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Die Waldbrände in Brandenburg, an den Mittelmeerküsten, in Kalifornien, Australien und an anderen Orten weltweit haben das Feuer in die Medien gebracht. Und zugleich ist das wohl wichtigste langfristige Leitbild der europäischen Politik »zero emissions«, eine emissionsfreie Gesellschaft, die sozial gerecht und fair bis 2050 realisiert sein soll. Dieses Ziel bedeutet im Kern einen Abschied vom Feuer und damit ein Projekt von menschheitsgeschichtlicher Dimension, weil ein seit rund einer Million Jahre

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»Der Kapitalismus in der Gelehrtenwelt«

»Der Kapitalismus und sein gleichzeitig mit ihm gegebener Gegensatz, das Proletarierthum, mit welchem er zusammen nur eine einzige Erscheinung bildet, ist die Macht, auf dem Wege vollkommener wirthschaftlicher Freiheit und des positiven Rechts über den Arbeitsertrag Anderer zu verfügen.«1 Diese Definition setzt der Chemiker Adolf Mayer an den Anfang seiner Schrift Der Kapitalismus in der Gelehrtenwelt aus dem Jahr 1881. Die Bezüge zu der Wissenschaftskritik, die in der Bewegung #IchBinHanna geäußert wurde,

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Ludwig Feuerbach und die Philosophie der Zukunft

Im Jahr 1843 konnte man in den Anekdota zur neuesten deutschen Philosophie und Publicistik lesen: »Und es gibt keinen andern Weg für euch zur Wahrheit und Freiheit, als durch den Feuer-bach. Der Feuerbach ist das Purgatorium der Gegenwart.«1 Der Satz wird meist dem begeisterten Feuerbach-Leser Karl Marx zugeschrieben, es gibt jedoch auch die These, er stamme von Feuerbach selbst.2 Falls das stimmt, dann zeigt der Text, wie klar sich Feuerbach über seine philosophiegeschichtliche Stellung war. Seit dem

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Nachhaltigkeit und Freiheit

Die historischen Darstellungen des Begriffs der Nachhaltigkeit beginnen in Deutschland stets mit dem sächsischen Bergrat Hans Carl von Carlowitz (1645–1714),1 in dessen Werk Sylvicultura oeconomica über die Prinzipien der Forstwirtschaft (1713) das adjektivisch gebrauchte Partizip »nachhaltend« an einer einzigen Stelle, noch dazu in einem recht verschachtelten Satz, auftaucht.2 Der Journalist und Autor Ulrich Grober erklärte ihn in seinem Buch Die Entdeckung der Nachhaltigkeit gar zu deren Erfinder. Das fand

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Ortsbesuch in Hambach

»Kennst Du den Hambacher Forst, war das nicht der Ort, an dem Du Rettungsgrabungen gemacht hast?« Dies schrieb ich kurz vor meiner Fahrt in das rheinische Braunkohlerevier einem befreundeten Archäologen, Klaus Hilbert, der heute in Brasilien lehrt. Klaus antwortete sogleich, sandte sogar Fotos von der damaligen Grabung. »Das war Ende der 1970er Jahre. Wir haben die Erdschichten damals Zentimeter für Zentimeter abgezogen, teilweise mithilfe von Baggern, die das ganz vorsichtig abkratzen, zum Teil aber auch mit

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Umweltforschung im Anthropozän

Warum Interdisziplinarität unerlässlich ist Helmut Schelskys Motiv für die Gründung des Zentrums für interdisziplinäre Forschung (ZiF) in Bielefeld liest sich auch heute noch aktuell. In einer Denkschrift formulierte er Anfang der 1970er Jahre, die »Re-Integration der sich spezialisierenden Wissenschaften zu einer Zusammenarbeit der verschiedenen Disziplinen« sei eine zentrale Zukunftsaufgabe.1 An eine Einheitswissenschaft dachte er dabei nicht, wohl aber an projektgebundene Kooperation. Heute muss man diese

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Am Ende des Zwei-Grad-Ziels

Der Wunsch zu helfen ist in der Klimaforschung nicht weniger drängend, als es der Wunsch des Arztes ist, lebensbedrohliche Erkrankungen zu heilen: Man will den menschengemachten Klimawandel begrenzen, weil seine weitere ungehinderte Entfaltung katastrophale Auswirkungen hat. Dafür gibt es einen klaren quantitativen Fahrplan, das Zwei-Grad-Ziel, das die Klimapolitik konkreter macht. Doch ist dieses Ziel mehr als Wunschdenken? Auch der Klimadiskurs ist nicht frei von technozentrischem Denken, das trotz aller

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