Heft 860, Januar 2021

Umweltforschung im Anthropozän

Warum Interdisziplinarität unerlässlich ist von Jens Soentgen

Warum Interdisziplinarität unerlässlich ist

Helmut Schelskys Motiv für die Gründung des Zentrums für interdisziplinäre Forschung (ZiF) in Bielefeld liest sich auch heute noch aktuell. In einer Denkschrift formulierte er Anfang der 1970er Jahre, die »Re-Integration der sich spezialisierenden Wissenschaften zu einer Zusammenarbeit der verschiedenen Disziplinen« sei eine zentrale Zukunftsaufgabe.1 An eine Einheitswissenschaft dachte er dabei nicht, wohl aber an projektgebundene Kooperation.

Heute muss man diese Forderung noch verstärken, denn die innere Ausdifferenzierung der Wissenschaft schreitet fort, und ohne Gegengewichte, die für eine innere Verbindung sorgen und dafür, dass die in der Wissenschaft Tätigen auch das Bewusstsein haben, sich ein und derselben Institution zugehörig zu fühlen, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass die Wissenschaft sich auflöst in eine bunte Vielfalt ganz unterschiedlicher Wissensprojekte, die einander wenig oder nichts zu sagen haben.

Dass solche zentrifugalen Tendenzen heute schon unübersehbar sind, wird man kaum bestreiten können. Ein halbes Jahrhundert nach Schelskys Denkschrift gibt es aber auch noch einen zweiten Grund, Interdisziplinarität mit drastisch gesteigerten Mitteln und neuen Instrumenten zu fördern. Dieser Grund liegt in der Veränderung der Welt selbst.

Wenn es stimmt, dass wir im Anthropozän leben – der Zoologe Hubert Markl sprach schon 1986 und damit lange vor Paul J. Crutzen vom Anthropozoikum –,2 dann werden wir uns noch viel intensiver um Mehrsprachigkeit in den Umweltwissenschaften bemühen müssen als bislang. Oft stellt man sich die Zusammenarbeit von Natur- und Geistes- und Sozialwissenschaften so vor, dass die Naturwissenschaften die Probleme entdecken, deren Ursachen analysieren und daraus auch die Lösung ableiten, während die Sozial- und Geisteswissenschaften dann ins Boot geholt werden, wenn die Lösung der sogenannten Öffentlichkeit vermittelt werden soll.

Eine solche Vorstellung ist aber absurd, wenn auch nur irgendetwas an der Vorstellung von einem Anthropozän dran ist. Im Anthropozän sind die Geistes- und Sozialwissenschaften nicht erst bei der Erarbeitung von Lösungen gefragt. Vielmehr muss auch die Ursachendiagnose interdisziplinär stattfinden. Und erst daraus kann man dann realistische Lösungsansätze herausbilden.

Es gibt kaum noch eine Tatsache in unserer Biosphäre, die sich rein naturwissenschaftlich erklären ließe. Der Klimawandel, der Biodiversitätsschwund, die Austrocknung des Aralsees, die Austrocknung des Urmia-Sees im Iran, das Absterben der Korallen im Great Barrier Reef, die »toten Zonen« im Golf von Mexiko oder auch moderne Epidemien wie Aids und Corona haben keineswegs ausschließlich natürliche Ursachen. Diese Phänomene lassen sich allesamt nur befriedigend erklären, wenn wir soziale und kulturelle Fakten einbeziehen. Sozial- und Kulturwissenschaften sind darum, und das unterscheidet unsere Welt von der Welt vor dreihundert Jahren, als die moderne Naturwissenschaft entstand, unerlässlich für das kausale Verständnis nicht nur gesellschaftlicher, sondern auch ökologischer und biologischer Phänomene.

Aber auch in prognostischer Hinsicht sind Gesellschafts- und Geisteswissenschaften im Anthropozän unerlässlich. Wie wird sich der Klimawandel weiter entfalten? Erst wenn man neben den naturwissenschaftlich-technischen Realitäten auch politische und sozialwissenschaftliche einbezieht, kommt man zu überzeugenden Erklärungen und für die Zukunft zu realitätsnäheren Abschätzungen.

Es ist hier ganz ähnlich wie beim Corona-Virus: Auch der ist zwar, wie die Genanalysen gezeigt haben, natürlichen Ursprungs. Doch seine Ausbreitung kann nur in der Zusammenarbeit mehrerer Fächer erklärt und vorhergesagt werden. Sie hängt ab etwa von der Existenz kultureller Vorlieben für den Verzehr bestimmter wilder Tiere. Sie hängt ab von der ökonomischen Globalisierung, die häufige Reisen von Berufstätigen und Privatleuten zwischen Kontinenten nicht nur ermöglicht, sondern erzwingt. Sie hängt ab von einer immer weiter zunehmenden Urbanisierung. Alles dies sind soziale Tatsachen. Erst recht müssen sozial- und kulturwissenschaftliche Fächer integriert werden, wenn es um die Entwicklung realistischer und wirksamer Maßnahmen geht.

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