Baum und Zeit
von Jens SoentgenUhrenzeit und ökologische Zeit
Schnee können wir fallen sehen, gesteigert wird sein Eindruck, wenn er sich auf Bäumen absetzt. Leichten Wind sieht man überhaupt nur an der Bewegung von Blättern und Zweigen. Und ein warmer Sommertag wird intensiver durch einige blühende und duftende Linden, in denen man das Gesumm der Bienen hört. Bäume machen Wetter sichtbarer, erlebbarer, fassbarer; sie steigern den Eindruck des Wetters. Aber nicht nur dem Wetter geben die Bäume ein Gesicht, sondern auch der Zeit. Das klingt vielleicht paradox, weil man bei Zeit zunächst an die Uhrenzeit denkt, die man kaum an den Bäumen abliest.
Die Uhrenzeit mit ihren typischen Einheiten Sekunde, Minute, Stunde ist eine soziale Konstruktion, ebenso wie die Woche. Das wesentliche Charakteristikum dieser Konstruktion besteht darin, dass sie Zeit eindeutig und beliebig fein messbar macht, was eine weitreichende Synchronisierung des sozialen Lebens ermöglicht. Nur unter dieser Voraussetzung kann beispielsweise Pünktlichkeit, auch im Sinne eines pünktlichen, fristgerechten Erledigens von Aufgaben, zu einer wichtigen, gesellschaftsgestaltenden Norm werden.1
Es gibt jedoch noch eine andere Zeit, die ich ökologische Zeit nennen möchte, weil sie für nichtmenschliche Lebewesen und Ökosysteme relevanter ist. Sie ist in dem Sinne natürlich, dass sie unabhängig von Menschen und Menschenwerk ist; ihre Einheiten sind die Tage mit ihrer Gliederung wie Morgen, Mittag, Nachmittag, Abend und Nacht, aber auch die Monate, denn deren Maß ist ursprünglich und auch heute noch gut erkennbar der Mondzyklus. Und dann sind da natürlich noch die Jahreszeiten, bei uns Frühling, Sommer, Herbst und Winter; in den Tropen Regenzeit und Trockenzeit. Diese natürliche Zeit geht nicht in zyklisch wiederkehrenden Prozessen auf, obwohl das Wiederkehrende sicher das Auffälligste an ihr ist.
Dieser ökologischen Zeit geben die Bäume, und zwar besonders Stadtbäume, ein Gesicht. Sie erinnern uns damit an ein Faktum, das bereits die antiken Stoiker beschäftigt hat: Wir sind nicht nur Angehörige der res publica, Bürger einer Stadt, Angehörige eines Staates usw. Wir gehören nicht nur diesem uns Menschen verbindenden Gemeinwesen an, in dem gesprochen, intrigiert, gewählt und regiert wird. Es gibt da nämlich noch jenes andere, ältere Gemeinwesen, das über die Menschenwelt hinausgeht und dem wir ebenfalls angehören. Darauf verweist ursprünglich der Begriff »Kosmopolit«. Auch jenes ältere, nicht nur menschliche Gemeinwesen hat seine Ordnung und seine Zeit.
Zeitkonflikte
Der Konflikt zwischen der ökologischen Zeit und der sozial geschaffenen Uhrenzeit ist ein alter Topos, er findet sich erstmals in der Zivilisationskritik des 18. Jahrhunderts, bei Rousseau. In Emile schreibt er gleich im ersten Abschnitt über den Menschen: »Er zwingt einen Boden, die Erzeugnisse eines anderen zu züchten, einen Baum, die Früchte eines anderen zu tragen. Er vermischt und verwirrt Klima, Elemente und Jahreszeiten.«
Später unterscheidet der Philosoph Ludwig Klages, einer der ersten, der Umweltzerstörung als nicht nur regionales, sondern globales Phänomen erkannte und kritisierte, Rhythmus und Takt, wobei er den Rhythmus als natürliches Phänomen, den Takt als technisch-soziales begriff. Den Rhythmus zeichne aus, dass er eine Wiederkehr von Ähnlichem in annähernd gleichen Zeitabschnitten sei, diese Wiederkehr sei eine Erneuerung. Beim Takt dagegen handle es sich um eine bloß mechanische Wiederholung.2
Die naturwissenschaftliche Forschung zu Konflikten zwischen natürlicher Zeit und sozialer Zeit begann, verglichen mit diesen philosophischen Intuitionen, erst spät, nämlich erst ab ungefähr 1945, als der Arzt und Biologe Jürgen Aschoff mithilfe bestimmter Blutmarker nachwies, dass der menschliche Organismus ebenso wie die tierischen Organismen mit übergreifenden natürlichen Rhythmen synchronisiert ist. Aschoff prägte auch den Begriff des Zeitgebers und unterschied äußere und innere Zeitgeber.3
Heute wissen wir aus Arbeiten, die im Gefolge von Aschoff in der Arbeitsmedizin und der Flug- und Raumfahrtmedizin vorgenommen wurden, dass ein Übergehen natürlicher Rhythmen zwar möglich ist, aber gesundheitliche Folgen hat.4 Das Phänomen des Zeitkaters, des Jetlag, ist allgemein bekannt. Besonders gut untersucht und ökonomisch relevant sind die gesundheitlichen Folgen von Schichtarbeit. In Deutschland sind 15,6 Prozent der arbeitenden Bevölkerung Schichtarbeiterinnen und Schichtarbeiter. Viele Studien zeigen, dass solche Arbeit sich schädigend auf die Gesundheit auswirkt.5
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