Heft 884, Januar 2023

»Der Kapitalismus in der Gelehrtenwelt«

von Jens Soentgen

»Der Kapitalismus und sein gleichzeitig mit ihm gegebener Gegensatz, das Proletarierthum, mit welchem er zusammen nur eine einzige Erscheinung bildet, ist die Macht, auf dem Wege vollkommener wirthschaftlicher Freiheit und des positiven Rechts über den Arbeitsertrag Anderer zu verfügen.«1 Diese Definition setzt der Chemiker Adolf Mayer an den Anfang seiner Schrift Der Kapitalismus in der Gelehrtenwelt aus dem Jahr 1881. Die Bezüge zu der Wissenschaftskritik, die in der Bewegung #IchBinHanna geäußert wurde, sind auffallend, sie sind weitgehend und erstrecken sich vielfach bis in einzelne Formulierungen. Trotz zeitbedingter Unterschiede ist die Diagnose der Missstände im Wesentlichen dieselbe. Wie kann das sein?

Während sich aktuell die berechtigte Kritik am Wissenschaftszeitvertragsgesetz und den von Unsicherheit und »Hyperkonkurrenz« geprägten Bedingungen entzündet, unter denen sich in Deutschland Nachwuchswissenschaftlerinnen und Nachwuchswissenschaftler von Befristung zu Befristung hangeln müssen, bis schließlich der Tag kommt, an dem sie »leider nicht mehr verlängert werden können«, argumentiert Mayer grundlegender und betrachtet auch die vorteilhafte Situation der Etablierten.

Proto-Virologe, Agrikulturchemiker und Wissenschaftskritiker

Adolf Eduard Mayer wurde 1843 in Oldenburg geboren und starb als Neunundneunzigjähriger 1942 in Heidelberg. Sein Hauptarbeitsgebiet war die Agrikulturchemie; er arbeitete aber auch zur Bodenkunde und zur Gärungschemie. Den Wissenschaftsbetrieb in Deutschland kannte er von innen, konnte ihn jedoch auch mit anderen Systemen vergleichen, denn im Jahr 1876 folgte er einem Ruf an die landwirtschaftliche Versuchsanstalt in Wageningen in den Niederlanden, wo er sein Fach achtundzwanzig Jahre lang vertrat. Mayer förderte es mit vielen einzelnen Forschungsarbeiten und besonders mit seinem Lehrbuch, das bis ins 20. Jahrhundert mehrere Auflagen erlebte.2

Dank seiner außerordentlichen Beobachtungsgabe gelang ihm die Entdeckung des Ursprungs der von ihm erstmals so genannten Mosaikkrankheit des Tabaks. Diese verursacht enormen wirtschaftlichen Schaden, weil die befallenen Pflanzen sich nicht mehr für Tabakprodukte verwerten lassen. Mayer wies nach, dass es sich hier nicht um mangelnde Nährstoffversorgung handelt, sondern um eine Pflanzenkrankheit, die zudem, wie er entdeckte, ansteckend ist.3

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