Heft 895, Dezember 2023

Meer und Land

von Jens Soentgen

Was ist die typische Umgebung der Menschen und welche Form hat sie? Man könnte, mit Blick auf die letzten Arbeiten von Bruno Latour sagen, dass Menschen »earthbound« sind.1 Dem hat sich jüngst Peter Sloterdijk angeschlossen: »Das seit 1927 philosophisch so bezeichnete In-der-Welt-Sein ist entweder eine hohle Formel, oder es bedeutet: Auf-Gaia-Sein und Dasein in der sensiblen Zone.«2 Mir scheint eher das Latour-Sloterdijk’sche Auf-Gaia-Sein eine hohle Formel zu sein. Denn was soll »Auf-Gaia-Sein« bedeuten? Es wäre wenig erhellend, zu sagen, dass die Menschen auf der Erde oder »auf Gaia« leben, und nicht in einer Raumstation oder auf dem Mars.

Aufschlussreicher und wohl auch näher an Latours Intuition ist es, von der scheinbar trivialen Aussage auszugehen, dass wir Landlebewesen sind. Wir leben (auf der Erde) an Land, und zwar so, dass wir zwar immer wieder ins oder zumindest ans Wasser zurückkehren, dass wir Wasser ständig in uns aufnehmen müssen, aber nicht dauerhaft im Wasser leben können. Die Umgebung Land ist allen Menschen eigentümlich, und zwar Land immer im Unterschied und in der Beziehung zum Wasser. Menschsein, das bedeutet nicht abstrakt Auf-Gaia-Sein, sondern viel genauer: An-Land-Sein. Und um dessen spezifische Strukturen zu erfassen, die unser tägliches Leben bis in seine tiefsten Grundlagen prägen, muss man eine amphibische Perspektive entwickeln, das In-der-Welt-Sein mithilfe der Unterscheidung des Im-Wasser-Seins vom An-Land-Sein neu verstehen. Die Differenz von Meer und Land ermöglicht weite Blicke.

Aus dem Wasser stammen alle Landlebewesen, ursprünglich auch der Mensch. Weil wir zu den Wesen gehören, die nicht (mehr) das Wasser bewohnen, können wir es auf eine Weise kennen, die den eigentlichen Wassereinwohnern verschlossen ist. Und umgekehrt: Weil wir das Wasser zwar nicht bewohnen, aber doch ständig mit ihm beschäftigt sind, können wir uns auch klarmachen, wie maßgeblich unser An-Land-Sein unser Dasein und auch unser Denken bestimmt. Dabei reicht es nicht aus, sich nur mit einzelnen statischen Faktoren wie etwa der Schwerkraft oder dem höheren Sauerstoffgehalt der Atmosphäre zu befassen. Wichtig ist die unterschiedliche Zeitstruktur und die andere Räumlichkeit von Wasser und Land. Wie aber kann man die beiden Umgebungen in dieser Hinsicht angemessen kennzeichnen?

Die erste systematische Antwort darauf wurde schon vor über einhundertdreißig Jahren formuliert, ist aber heute noch so aktuell wie damals. Wir verdanken sie dem seinerzeit angesehenen, mittlerweile aber nur noch Spezialisten geläufigen Leipziger Zoologen Heinrich Simroth. In seinem umfangreichen Werk Die Entstehung der Landtiere, erschienen 1891, verband Simroth eine ökologische mit einer evolutionstheoretischen Perspektive. Den grundlegenden Unterschied von Wasser und Land für das Leben fasste er in einen einfachen Satz: »Das Land ist das Reich der Gegensätze, das Wasser das Reich des Gleichmaßes.«3

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