Meer und Land
von Jens SoentgenWas ist die typische Umgebung der Menschen und welche Form hat sie? Man könnte, mit Blick auf die letzten Arbeiten von Bruno Latour sagen, dass Menschen »earthbound« sind. Dem hat sich jüngst Peter Sloterdijk angeschlossen: »Das seit 1927 philosophisch so bezeichnete In-der-Welt-Sein ist entweder eine hohle Formel, oder es bedeutet: Auf-Gaia-Sein und Dasein in der sensiblen Zone.« Mir scheint eher das Latour-Sloterdijk’sche Auf-Gaia-Sein eine hohle Formel zu sein. Denn was soll »Auf-Gaia-Sein« bedeuten? Es wäre wenig erhellend, zu sagen, dass die Menschen auf der Erde oder »auf Gaia« leben, und nicht in einer Raumstation oder auf dem Mars.
Aufschlussreicher und wohl auch näher an Latours Intuition ist es, von der scheinbar trivialen Aussage auszugehen, dass wir Landlebewesen sind. Wir leben (auf der Erde) an Land, und zwar so, dass wir zwar immer wieder ins oder zumindest ans Wasser zurückkehren, dass wir Wasser ständig in uns aufnehmen müssen, aber nicht dauerhaft im Wasser leben können. Die Umgebung Land ist allen Menschen eigentümlich, und zwar Land immer im Unterschied und in der Beziehung zum Wasser. Menschsein, das bedeutet nicht abstrakt Auf-Gaia-Sein, sondern viel genauer: An-Land-Sein. Und um dessen spezifische Strukturen zu erfassen, die unser tägliches Leben bis in seine tiefsten Grundlagen prägen, muss man eine amphibische Perspektive entwickeln, das In-der-Welt-Sein mithilfe der Unterscheidung des Im-Wasser-Seins vom An-Land-Sein neu verstehen. Die Differenz von Meer und Land ermöglicht weite Blicke.
Aus dem Wasser stammen alle Landlebewesen, ursprünglich auch der Mensch. Weil wir zu den Wesen gehören, die nicht (mehr) das Wasser bewohnen, können wir es auf eine Weise kennen, die den eigentlichen Wassereinwohnern verschlossen ist. Und umgekehrt: Weil wir das Wasser zwar nicht bewohnen, aber doch ständig mit ihm beschäftigt sind, können wir uns auch klarmachen, wie maßgeblich unser An-Land-Sein unser Dasein und auch unser Denken bestimmt. Dabei reicht es nicht aus, sich nur mit einzelnen statischen Faktoren wie etwa der Schwerkraft oder dem höheren Sauerstoffgehalt der Atmosphäre zu befassen. Wichtig ist die unterschiedliche Zeitstruktur und die andere Räumlichkeit von Wasser und Land. Wie aber kann man die beiden Umgebungen in dieser Hinsicht angemessen kennzeichnen?
Die erste systematische Antwort darauf wurde schon vor über einhundertdreißig Jahren formuliert, ist aber heute noch so aktuell wie damals. Wir verdanken sie dem seinerzeit angesehenen, mittlerweile aber nur noch Spezialisten geläufigen Leipziger Zoologen Heinrich Simroth. In seinem umfangreichen Werk Die Entstehung der Landtiere, erschienen 1891, verband Simroth eine ökologische mit einer evolutionstheoretischen Perspektive. Den grundlegenden Unterschied von Wasser und Land für das Leben fasste er in einen einfachen Satz: »Das Land ist das Reich der Gegensätze, das Wasser das Reich des Gleichmaßes.«
Mit Gleichmaß klingt etwas von Harmonie an, zugleich erinnert die Formel an Hegels bedeutende Elementenlehre; doch ein Einfluss Hegels auf Simroth ist wenig wahrscheinlich. Mit »Reichen« meint Simroth sowohl räumliche Bereiche als auch das, was man heute Regime nennt, unterschiedliche ökologische Ordnungen und Dynamiken. Mit »Wasser« ist in allererster Linie das wirklich offene Wasser gemeint, die Ozeane, was auch plausibel ist, da diese ja mit Abstand die größte Wassermasse auf Erden bilden. Dass in der Brandungszone, wo das Meer an das Land stößt, von dem von ihm hervorgehobenen Gleichmaß nicht die Rede sein kann, ebenso, wie auch seine Oberfläche, die an die Luft grenzt, durch Winde aufgewühlt sein kann, versteht sich von selbst.
Auch die sehr unterschiedlichen Binnengewässer widersprechen Simroths Ansatz nicht, denn man kann sie konstruieren als Zwischenglieder zwischen dem Reich der Gegensätze und dem Reich des Gleichmaßes. An Quellen, Bächen, Flüssen, Teichen und Seen kann man durchaus viele Gegensätze feststellen, was aber nicht weiter verwundern kann, da sie eben selbst schon, so nass sie auch sind, landartige Züge annehmen. Sie sind viel stärker vom Land bestimmt als der offene Ozean.
Sieben Zehntel der Erdoberfläche aber sind vom Meer bedeckt, das zudem noch sehr tief ist, im Durchschnitt sind die Ozeane vier Kilometer tief. Das Land dagegen ragt im Durchschnitt nur 840 Meter über den Meeresspiegel hinaus. Und für das offene Meerwasser gilt in der Tat, was Simroth feststellt. Das Wasser umhüllt die in ihm lebenden Wesen und trägt sie. Es ernährt sie auch, denn für einen im Meer treibenden Einzeller trägt das Meerwasser die Nährstoffe heran und transportiert die Schadstoffe ab. Für die Körperzellen eines Landlebewesens übernimmt das Blut diese Aufgabe.
Das Wasser nährt und trägt nicht nur, es schützt auch. Das gilt schon mechanisch, denn Wasser absorbiert Stöße und wandelt sie in Wellen um, die sich irgendwann verlieren. Es gilt zugleich für die Nährstoffe, denn das Wasser verteilt sie als hocheffizientes Lösungsmittel überall gleichmäßig. Licht und Wärme werden ebenfalls gleich verteilt. Gewiss steigt der Druck in der Tiefe sehr schnell, gewiss sind die Tiefen kälter und werden rasch dunkel, vom Tageslicht, das auf die Wasseroberfläche trifft, bleibt nach zehn bis dreißig Metern nur noch ein Prozent übrig. Doch auch die tieferen Zonen sind nicht abrupt von den höheren getrennt; die Zonen gleiten allmählich ineinander über. Simroth schreibt: »Im Wasser gleiche Dichte, gleicher Bewegungswiderstand, diffuses Licht, nach der Tiefe gleich-mäßige Abnahme, geringe Wärmeunterschiede, verhältnismäßig wenig Bewegung, außer an der Oberfläche und in der Gezeitenzone.«
Ein Meerestier kann nach Norden, Sü-den, Osten oder Westen reisen, über sehr lange Strecken bleibt sich das Wasser gleich, es hat überall mehr oder weniger denselben Mineral- und Salzgehalt, dieselbe Temperatur und auch eine ähnliche Farbe. Das erstaunliche Gleichmaß der chemischen Zusammensetzung des Meerwassers wird in allen meereskundlichen Werken hervorgehoben. Nur der Sauerstoffgehalt ist in Oberflächennähe deutlich höher als in der Tiefe, doch auch hier geschehen die Übergänge allmählich. Der offene Ozean ist also eine sehr homogene Umgebung. Er präsentiert sich den darin lebenden Geschöpfen als wogende Weite. Und diese wogende Weite bestand schon immer: Seitdem das Wasser im Ur-Regen auf der erkaltenden Erde niederging, bildet das Meer eine zusammenhängende Einheit. Diese Einheit ist durch keine Katastrophen je zerrissen worden. Die Kontinuität gilt also nicht nur materiell und räumlich, sondern auch zeitlich.
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