Wunden und Wälder
Zum Zusammenhang von Leib- und Naturphilosophie von Jens SoentgenWie ist das passiert? Narben sind Erinnerungsorte und Erzählanlässe. Weil sie stets einen Bezug zu Ereignissen und Geschichten aufweisen, hat sich nicht nur die Medizin, sondern auch die Rhetorik schon frühzeitig mit ihnen befasst. Narben zur Schau zu stellen ist eine alte kulturelle Praxis. Tatsächlich war es bei Reden im Alten Rom nicht selten, dass Politiker auf ihre in diversen Feldzügen empfangenen Wunden verwiesen oder diese gar vorzeigten, andererseits die Narbenlosigkeit ihrer Kontrahenten verspotteten. Auch in anderen Kulturen spielen Narben eine Rolle als vorzeigbare Beweise für Tapferkeit und Opfermut.
Und auch wenn in Deutschland die sogenannten Schmisse im Gesicht ein seltener Anblick geworden sind, erfreuen sich doch andere, technisch ausgefeilte Formen der Skarifizierung zunehmender Popularität. Wunden und die daraus entstehenden Narben sind Zeichen, dass Ernst gemacht wurde, dass Blut geflossen ist. In der Literatur fungieren Narben als Spannungserzeuger; ein Beispiel ist die Stirnnarbe Harry Potters, die diesem, wie man im Verlauf des Buches erfährt, von dem Magier Voldemort beigebracht wurde.
Die Vis mediatrix naturae
Narben sind nicht nur Anlässe, dramatische Geschichten zu erzählen, sie erzählen immer auch von einer stillen, wenig beachteten Geschichte, denn sie sind immer auch Heilungsspuren. Eine neue Haut bildet sich geräuschlos dort, wo zuvor ein blutender Riss, ein Loch, eine Abschürfung war. Meist schließt sich die Wunde wieder. Die Wunde heilt »von selbst« – und das Selbst, das hier heilt, kann als etwas Natürliches bezeichnet werden.
All dies ist alltäglich und allgegenwärtig. Niemand kommt unverletzt durchs Leben. Der Bauchnabel, der nichts anderes ist als diejenige Narbe, die so alt ist wie wir selbst, erinnert daran, dass auch niemand unverletzt ins Leben gelangt.
So alltäglich der Prozess der Narbenbildung ist, so erstaunlich ist er zugleich, und noch in den neuesten Lehrbüchern der Wundmedizin wird auf dieses Erstaunliche gleich zu Beginn hingewiesen. So liest man etwa in einem aktuellen Buch namens Wundatlas, dessen Abbildungen nichts für schwache Nerven sind: »Jedes Lebewesen ist Verletzungen seiner Oberfläche ausgesetzt. Das biologische Phänomen der Wundheilung in Form von Regeneration und Reparation verhindert den Eintritt einer Infektion und schützt den Organismus.« Obwohl die Wunde seit jeher einer der zentralen Anlässe für Hilfeleistungen ist, steht fest, dass hinter der Wundheilung nicht die ärztliche Hilfe steht, sondern ein leiblicher Prozess, ohne den alle Hilfe erfolglos wäre: »Die Fähigkeit des Organismus zur Wundheilung bildet […] die Grundlage jeglicher Therapie.«
In der medizinischen Literatur wurde das Phänomen der Selbstheilung schon früh gewürdigt: Paracelsus etwa schreibt in seiner Großen Wundarznei (1536), dass »die Natur ihren eigenen Arzt in ihrem eigenen Gliede [hat], der das heilt, was in ihr verwundet ist«. Auch wo einer eine Krankheit überwindet und wieder gesund wird, ist nach Ansicht einer langen Tradition in der medizinischen Theorie letztlich die Selbstheilungskraft der Natur wirksam. Auch wenn das bei Infektionskrankheiten nicht so offensichtlich und unbestreitbar ist wie bei Wunden – man könnte ja die Erkrankung auch auf bösen Zauber und das Gesunden auf ein Nachlassen des Zaubers oder auch auf einen mächtigeren Gegenzauber zurückführen –, gibt es doch Indizien dafür.
So wurde schon früh beobachtet, dass die Krankheit nicht nur ein Leiden ist, sondern auch ein Kampf, und man hat auch oft vermutet, dass gerade das Fieber eine wichtige Rolle in diesem Kampf spielt. Schon Hippokrates schrieb, dass die »Naturen die Ärzte der Krankheiten« sind. Der Arzt Galenos von Pergamon sah es ähnlich und erklärte, dass »die Natur der Hauptwerkmeister [ist], wodurch die Gesundheit dem Kranken verschafft werde«. Über jenen »Hauptwerkmeister« oder »inneren Arzt« schrieb der Mediziner und Medizinhistoriker Karl Friedrich Heinrich Marx 1872: »Ein solcher Arzt ohne Apotheke und ohne Instrumente, immer wach und immer thätig, kennt so mannigfache Wege der Erleichterung und Hilfe, dass die unbewusste Seele oft die bewusste beschämt. Die den Organismen eingeborene Urpotenz, bezeichnet als Bildungstrieb, Lebenskraft, Erhaltungskraft, Heilkraft, führt den Kampf um das Daseyn. Das schaffende und ordnende Prinzip […] entwickelt in der obwaltenden Störung eine wunderbare Mannigfaltigkeit von Wirkungen.«
Auch berühmte Kliniker des 20. Jahrhunderts verweisen mit vielen Beispielen auf dieses Phänomen, wie etwa der Psychiater Eugen Bleuler, der nach Schilderung einiger Beispiele für Selbstheilungen auch bei vermeintlich hoffnungslosen Erkrankungen seine Auffassung so zusammenfasst: »Ich meine also, man solle medizinieren, wo man weiß, daß es nötig oder nützlich ist, sonst aber nicht, und man sollte zu erforschen suchen, nicht nur welches Mittel besser ist als ein anderes […] sondern ob überhaupt die Anwendung eines Mittels besser ist, als die Natur machen zu lassen.«
Der Newsletter der Kulturzeitschrift MERKUR erscheint einmal im Monat mit Informationen rund um das Heft, Gratis-Texten und Veranstaltungshinweisen.