Im Eifer des Gefechts
von Wolfgang FachDer Eifer des Gefechts schafft nur Probleme: Eifrige Menschen übersehen oder übertreiben etwas, übernehmen sich oder überreizen ihr Blatt, überspannen den Bogen oder überhören Signale. Wer sich nicht beherrschen kann, muss damit rechnen, dass ihm der Eifer am Ende sogar das Gefecht ruiniert.
In der »großen Politik« gilt dieser Totalschaden freilich als »Höhepunkt« (Carl Schmitt) – sogar für jene, die ihn erleiden. Das sei deswegen so, erfahren wir, weil alle Beteiligten durch den Krieg eine Art Transsubstantiation erleben, an deren Ende sie »höhere« Lebewesen sind. So wie vom deutschen Kaiser im August 1914 verkündet: »Ich kenne keine Parteien und auch keine Konfessionen mehr; wir sind heute«, ließ Seine Majestät wissen, »alle deutsche Brüder und nur noch deutsche Brüder.« Seid umschlungen, Millionen!
Das Gefecht war dann verlorene Liebesmüh – der »süße Schlaf im Leichentuch« (Schiller) war alles, was den Millionen blieb. Vor lauter Eifer hatte man die Risiken unterschätzt.
Der Krieg als Kur
Darf man den Zeitzeugen glauben, dann war Wilhelms Kriegstheater keine Kopfgeburt eines spinnerten Monarchen – offenbar wollten viele Untertanen mit Leib und Leben ihre Haut zu Markte tragen. »Die hochrufende Menge«, notiert im Rückblick das Berliner Tageblatt, »erhitzte sich zu stürmischer Begeisterung, sie überflutete, als wolle sie ihrem Kaiser durch körperliche Nähe zeigen, wie sie sich mit ihm verbunden fühle, den Fahrdamm, Hüte und Taschentücher wurden geschwenkt.« Dieser Zauber war schnell verflogen – was freilich wenige davon abhalten sollte, ein paar Jahre später rückfällig zu werden.
Und nun die vielerorts bewunderte Ukraine, deren »Wehrwillen« selbst den russischen Aggressor überrascht, obwohl der genügend Zeit hatte, sich die Kräfteverhältnisse auszurechnen, und kaum losgeschlagen hätte, wäre er seiner Sache nicht ganz sicher gewesen. Wir Deutschen werden bei dieser Gelegenheit daran erinnert, dass die Ukraine vor Jahren vom Wehrdienst abrücken wollte, sich dann aber, wie es im Rückblick aussieht, eines Besseren besonnen und anders entschieden hat.
Hierzulande hat man diese Bürgerpflicht freilich abgeschafft und setzt seither auf die Kampfkraft von Berufssoldaten. Freilich schwante dem Federführenden schon damals Böses: Es sei, so seine Prognose, damit zu rechnen, dass genau solche Bewerber sich vordrängen, »die wir nicht haben wollen«. Soll heißen: Statt der erhofften »Helden« melden sich »Händler«: Söldner, die einen Job suchen und lieber verdienen als dienen wollen.
Heute stimmen gesunder und gelehrter Menschenverstand darin überein, dass die Qualität des Militärdiensts »beschädigt oder herabgesetzt« wird, sobald man ihn als »Ware« behandelt und dem Arbeitsamt (»Bundeswehr Karrierecenter«) überantwortet. Gerade der überwältigende Einsatzwille des ukrainischen Volkes lasse nur einen Schluss zu: »Die Bürger als geborene Verteidiger ihrer Freiheit – das ist etwas, das man nicht kaufen kann.«
Der Mehrwert, den die Geburt (Bürger) dem Geschäft (Söldner) voraushat, wenn es darum geht, die Freiheit zu verteidigen, muss nicht kalkulierbar sein. Im Eifer des Gefechts mögen Verrücktheiten passieren, deren positive Effekte erst rückblickend identifiziert werden können. Als etwa der Kreuzer Moskwa eine Gruppe ukrainischer Soldaten aufgefordert hat, sich zu ergeben, soll ihm signalisiert worden sein: »Russian warship, go fuck yourself«. Diese Parole schmücke, erfahren wir, inzwischen »viele Ortsschilder und Wegweiser in der Ukraine«. Wenig später sollte es dieser ebenso merk- wie denkwürdige Moment sogar zum Briefmarkenmotiv bringen. Eine breitenwirksame Resonanz also, die kein Mensch auf der Rechnung hatte und die dazu beitragen könnte, den Widerstandsgeist des Landes weiter anzufachen.
Freiheit oder Tod
Allerdings ist Freiheit, deren »geborene Verteidiger« wir sein sollen, kein typisch deutsches Kriegsmotiv. Die Deutschen waren bereit, für Kaiser, Führer oder das Vaterland zu sterben, doch sie taucht bestenfalls am Ende des politischen Devotionskatalogs auf: »Einigkeit und Recht und Freiheit«. Dass der Bürger sich gar um seiner Freiheit willen aufrüsten soll, ist ein überraschender Akzent mit Folgen.
Bis dato sind allein die Amerikaner so persönlich geworden. Zur Erinnerung: Nach dem Ende des Siebenjährigen Krieges (1756 bis 1763) gedachte Großbritannien, seinen Schuldenberg mithilfe höherer Steuereinkünfte abzubauen. Zur Kasse gebeten wurden auch die amerikanischen Kolonien, deren Bewohner den Obolus aber nicht entrichten mochten. Als Begründung gaben ihre Wortführer an, dass sie nicht so frei sein durften, über ihre Belastung mitzuentscheiden (im englischen Parlament hatte man weder Sitz noch Stimme).
Als hergebrachte Selbstverständlichkeit galt ihnen, dass »das Volk entweder seine Steuern selbst bestimmen oder diese Aufgabe gewählten Vertretern übertragen muss«. Dafür hatte man zwei Gründe parat: Niemand sonst kann wissen, wie hoch Steuern ausfallen dürfen, um für den Einzelnen noch erträglich zu sein; und es existiert keine bessere Methode, um sicherzustellen, dass, wer andere maßlos besteuert, sich ins eigene Fleisch schneidet. Das waren ihrer Meinung nach die beiden Stützpfeiler der »britischen Freiheit« und daher auch des kolonialen Anspruchs. Was aber in London auf taube Ohren gestoßen ist.
All dies wurde in einer Protestnote festgehalten, zu deren Unterzeichnern auch ein gewisser Patrick Henry gehörte. Ihm sollte es wenig später vergönnt sein, dem ökonomischen Interesse ein politisches Ideal abzupressen, dessentwegen man guten Gewissens einen Krieg anzetteln konnte: liberty or death! Was dem Publikum selbstredend keine Optionen präsentieren, sondern in den Kopf setzen sollte, dass es angemessen und an der Zeit sei, die Angelegenheit bis zum glücklichen oder bitteren Ende durchzufechten.
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