Heft 878, Juli 2022

Im Eifer des Gefechts

von Wolfgang Fach

Der Eifer des Gefechts schafft nur Probleme: Eifrige Menschen übersehen oder übertreiben etwas, übernehmen sich oder überreizen ihr Blatt, überspannen den Bogen oder überhören Signale. Wer sich nicht beherrschen kann, muss damit rechnen, dass ihm der Eifer am Ende sogar das Gefecht ruiniert.

In der »großen Politik« gilt dieser Totalschaden freilich als »Höhepunkt« (Carl Schmitt) – sogar für jene, die ihn erleiden. Das sei deswegen so, erfahren wir, weil alle Beteiligten durch den Krieg eine Art Transsubstantiation erleben, an deren Ende sie »höhere« Lebewesen sind. So wie vom deutschen Kaiser im August 1914 verkündet: »Ich kenne keine Parteien und auch keine Konfessionen mehr; wir sind heute«, ließ Seine Majestät wissen, »alle deutsche Brüder und nur noch deutsche Brüder.« Seid umschlungen, Millionen!

Das Gefecht war dann verlorene Liebesmüh – der »süße Schlaf im Leichentuch« (Schiller) war alles, was den Millionen blieb. Vor lauter Eifer hatte man die Risiken unterschätzt.

Der Krieg als Kur

Darf man den Zeitzeugen glauben, dann war Wilhelms Kriegstheater keine Kopfgeburt eines spinnerten Monarchen – offenbar wollten viele Untertanen mit Leib und Leben ihre Haut zu Markte tragen. »Die hochrufende Menge«, notiert im Rückblick das Berliner Tageblatt, »erhitzte sich zu stürmischer Begeisterung, sie überflutete, als wolle sie ihrem Kaiser durch körperliche Nähe zeigen, wie sie sich mit ihm verbunden fühle, den Fahrdamm, Hüte und Taschentücher wurden geschwenkt.«1 Dieser Zauber war schnell verflogen – was freilich wenige davon abhalten sollte, ein paar Jahre später rückfällig zu werden.

Und nun die vielerorts bewunderte Ukraine, deren »Wehrwillen« selbst den russischen Aggressor überrascht, obwohl der genügend Zeit hatte, sich die Kräfteverhältnisse auszurechnen, und kaum losgeschlagen hätte, wäre er seiner Sache nicht ganz sicher gewesen. Wir Deutschen werden bei dieser Gelegenheit daran erinnert, dass die Ukraine vor Jahren vom Wehrdienst abrücken wollte, sich dann aber, wie es im Rückblick aussieht, eines Besseren besonnen und anders entschieden hat.

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