Heft 859, Dezember 2020

Praying for Ginsburg

von Wolfgang Fach

Erwartungsgemäß ist das »chinesische Virus« in die juristische Interpretationsmühle geraten. Nevadas Gouverneur hat es für richtig und rechtens gehalten, säkulare Aktivitäten weniger strikt zu regulieren als sakramentale. Seine Begründung: Verglichen mit Casinobesuchen (oder Aufenthalten in Restaurants, Fitnessstudios, Bowling-Zentren etc.) seien Gottesdienste sozial dichtere, also gesundheitlich riskantere Ereignisse. Eine randständige Sekte, die »Calvary Chapel Dayton Valley«, wollte sich diese Ungleichbehandlung nicht gefallen lassen, hat daraufhin den Obersten Gerichtshof eingeschaltet und ist knapp gescheitert.1 Richter Alito war mit dem Ausgang nicht einverstanden: Amerikas Verfassung garantiere die freie Religionsausübung, wisse aber nichts von der Freiheit »to play craps or blackjack, to feed tokens into a slot machine, or to engage in any other game of chance«. Dass Nevadas Gouverneur seine Entscheidung auf den Not-, sprich: Seuchenfall stütze, setze den Schwerpunkt falsch. In erster Linie gehe es schließlich darum, die Verfassung zu verteidigen.2 Sie aber weiß von Casinos nichts, alles Weitere folgt von selbst, das Dekret ist nichtig.

In diesem Fall hat Alitos Starrsinn den Kürzeren gezogen. Das ist auch dem Votum Ruth Bader Ginsburgs zu verdanken, deren Tage zu diesem Zeitpunkt schon gezählt waren. »Praying for her health« – mehr ließ sich nicht mehr unternehmen, um weitere Attacken zu entschärfen.3 Genützt hat es nichts, das Jammern und Klagen war daher groß. Hierzulande sind solche Dramen schlichtweg unvorstellbar. Wen hat schon interessiert oder gar bewegt, dass auf Herrn Vosskuhle Frau Härtel gefolgt ist? Und Gebete sind aus diesem Anlass sicher nicht gesprochen worden. Was zur Frage führt, warum Amerika so anders tickt.4

Das »Richter-Projekt«

Auf den ersten Blick sticht ins Auge: Amerika registriert, wer richtet und führt Buch, wie einer urteilt. Geneigte Richter gelten als wertvolle Trophäen. So empfahl ein einflussreicher Senator und Parteifreund (Chuck Grassley) dem wahlkämpfenden Präsidenten, sich, anstatt allerhand Corona-Unsinn zu verzapfen, einfach aufs Allerwichtigste zu konzentrieren: dass er massenhaft Bundesrichter ernannt hat, nämlich geschlagene zweihundert. Das sei sein wirkliches »landmark achievement« und bestens dazu geeignet, den bedrohlichen Popularitätsschwund zu stoppen.5 Der eigentliche »Richtermacher«, Mitch McConnell, schlägt in dieselbe Kerbe: Am wichtigsten sei, alle freiwerdenden Stellen zu besetzen (»to leave no vacancy behind«).6 Politisch richten Vakanzen offenbar mehr Schäden an als Viren.7

Aber wo suchen, wen finden? Auf beide Fragen gibt es dieselbe, überraschend einfache Antwort: die Federalist Society, ein weitverzweigter, straff organisierter Verband gleichgesinnter Juristen. »Conservatives and libertarians« sind hier unter sich, geben einander Recht und basteln an ihren Karrieren.8 Die Organisation verfügt über ein Jahresbudget von 20 Millionen Dollar, hat 70 000 aktive Mitglieder, ist an 200 Universitäten aktiv, stellt praktisch alle von Trump ernannten Richter und sorgt für klare Verhältnisse beim Supreme Court (Alito, Gorsuch, Kavanaugh, Roberts, Thomas, Barrett). Abgesehen davon, dass ihre Macher die Karrieren von Richtern verwalten, geht es ihnen auch darum, die Konturen des Rechts zu bestimmen. Diesem Zweck dienen vor allem zwei Direktiven: Politisch bekämpft werden soll jene »Spielart eines orthodoxen Liberalismus, die auf eine zentral gesteuerte und gleichgeschaltete Gesellschaft hinarbeitet«; das soll, zweitens, auf dezidiert unpolitische Weise geschehen: »Es ist definitiv Sache und Pflicht der Justiz herauszufinden, was das Gesetz sagt, und nicht, was es sagen sollte.«9

Zunächst hat es den Anschein, als ob beides nicht zusammengehen würde: dass Gerichte eine Gesellschaft politisch verändern, ohne deren rechtliche Grundlagen zu attackieren. Samuel Alito hat vorgeführt, wie es funktioniert: Was immer ansteht – man befragt ausschließlich das »Original«, die Verfassung von 1789. Ihr Inhalt ist Anfang und Ende zugleich. Im Prinzip jedenfalls, denn weil man den Mund nicht immer halten will, wenn der Text schweigt, werden die toten Buchstaben gelegentlich »belebt«, soll heißen: Lagen und Launen angepasst.10

Die Federalist Society hat dieses Muster nicht kreiert, doch organisiert und etabliert. Es ist auch keineswegs mit ein paar Federstrichen in die Welt gekommen, sondern musste sich durch Ereignisse, Zeiten und Umstände hindurch mendeln. In dem Maß, wie diese Entwicklung Fahrt aufgenommen hat, ist Amerikas Geschichte sehr viel stärker als in anderen westlichen Demokratien Rechtsgeschichte geworden. Nachvollziehen lässt sich die Akzentverschiebung auf zentralen Feldern des gesellschaftlichen Lebens, eingeleitet wurde sie mit einem Gerichtsverfahren, das, weil es um politische Pfründen geht, ganz modern wirkt.

»What the law is«

Im Jahr 1800 verlor Amtsinhaber John Adams die Präsidentschaftswahl gegen seinen Herausforderer Thomas Jefferson. Um dem politisch missliebigen Nachfolger eins auszuwischen, ernannte er kurz vor Toresschluss in einer Nacht- und Nebelaktion Dutzende verdienter Gefolgsleute zu Bundesrichtern (»midnight judges«). Freilich sollte die Zeit nicht mehr ausreichen, um allen ihre Urkunden auch auszuhändigen. Da Jefferson nicht bereit war, die Sache vollends abzuschließen, blieben etliche Anwärter auf ihren Erwartungen sitzen. Einer unter ihnen, der Kaufmann William Marbury, wollte sich damit nicht abfinden und reichte beim Supreme Court Klage ein.11

Dass das (einstimmige) Urteil, verfasst von John Marshall, dem Chief Justice, sich im Rückblick als »the single most important decision in American constitutional law« erweisen würde,12 war seiner Umständlichkeit nicht anzusehen: Es befand, dass Marburys Klage, wiewohl sachlich begründet, rechtlich nicht haltbar sei, weil ihre Grundlage, der »Judiciary Act« von 1789, gegen die Verfassung verstoße.

Man hätte die ganze Angelegenheit vergessen können, wäre Marshall nicht auf den Gedanken verfallen, bei dieser Gelegenheit sein Credo loszuwerden: »It is emphatically the province and duty of the judicial department to say what the law is.«13 (Höchstrichterliche) Rechtsprechung ist Gesetzgebung. Kein Präsident, kein Parlament wirkt daran mit. So sehr sich heute viele Gemüter darüber erregen,14 so wenig nahm man damals daran Anstoß – die Dinge konnten einfach deshalb ihren Lauf nehmen, weil es während Marshalls langer Amtszeit (1801–1835) nichts Aufregendes zu verhandeln gab.

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