Heft 883, Dezember 2022

Tod, wo ist dein Stachel?

Über Kriege in der Ukraine und anderswo von Wolfgang Fach

Über Kriege in der Ukraine und anderswo

Der Film erzählt, historisch informiert, die Geschichte eines französischen Majors, den man dazu abgestellt hat, Gefallene des Ersten Weltkriegs zu administrieren. Er führt deren Akten, ordnet ihre Überbleibsel, macht trauernde Hinterbliebene ausfindig. Seine Leben dreht sich um den Tod und nichts anderes. Der absolute Tiefpunkt ist erreicht, als man ihm den Auftrag erteilt, eine Leiche aufzutreiben, die alle Voraussetzungen mitbringt (französisch, männlich, weiß, komplett), um als »unbekannter Soldat« französisches Heldentum zu verewigen. Nach dieser Erfahrung quittiert er frustriert den Dienst.

Ganz anders sein oberster Dienstherr, der Kriegsminister. Er hat vom Tod noch nicht genug und erhebt ihn zur Staatsaffäre: Es gilt, einen angemessenen Festakt zu organisieren, in dessen Verlauf unter den angelieferten Leichen jene bestimmt wird, der schlussendlich die Ehre zuteilwerden soll, von Verdun nach Paris transportiert und unter dem Arc de Triomphe begraben zu werden. Monsieur le ministre findet Gefallen an den Gefallenen, also legt er sich ins Zeug: Fanfaren, Trommeln, Fahnen, Ehrengäste, Publikum, eine staatsmännische Rede. Der Stachel des Todes ist gezogen.

Anderthalb Millionen dahingeraffte Franzosen – und ein nächster Krieg taucht schon am Horizont auf. Der gesunde Menschenverstand begreift dieses Wechselspiel nicht, denn: »Von den Menschen im Ernst zu fordern, dass sie Menschen töten und bereit sind, zu sterben, damit Handel und Industrie der Überlebenden blühe oder die Konsumkraft der Enkel gedeihe, ist grauenhaft und verrückt.« Grauenhaft, verrückt – und unerklärlich. Warum nur lassen sich die Leute massenhaft darauf ein?

Anders gefragt: Wie geht man politisch so mit dem Sterben um, dass das Töten nicht in Verruf gerät? Vier Strategien zeichnen sich ab: Die Risiken des Krieges werden erstens verdrängt, zweitens verherrlicht, drittens vergütet oder viertens verordnet. Welche Mixtur zum Zuge kommt, entscheidet sich von Mal zu Mal. Und was daraus folgt – Krieg, kein Krieg, »ein bisschen« Krieg –, hängt nicht zuletzt davon ab, aus welcher Routine (fünftens) die Politik gerissen wird.

Der Plan

Der Ukrainekrieg zeigt uns diese Diskrepanz tagtäglich: Den kleinen Mann, bewaffnet oder nicht, interessiert immer auch, ob er am Leben bleibt, derweil seine »Oberen« darüber räsonieren, wie sie den Krieg gewinnen oder die Krim behalten können. Nur dafür haben sie einen Kopf, und einzig dafür haben sie einen Plan – er ist, wenn man so will, ihr Leben.

Es gibt Virtuosen dieses Geschäfts wie Henry Kissinger, die alle Lebenslagen, mit denen sie zu tun haben, in Planvorlagen verwandeln. Auch für den russisch-ukrainischen Konflikt hat er schon vor Jahren seinen »Prospekt« lanciert: Danach muss Russland »akzeptieren, dass sein Versuch, die Ukraine zu einem Satellitenstaat zu machen und dabei die Grenzen Russlands wieder zu verschieben, zu großen Friktionen mit Europa und den USA führen würde«. Und der Westen »muss begreifen, dass die Ukraine für Russland niemals nur ein beliebig anderes Land, also Ausland, sein kann. Die russische Geschichte begann mit der Kiewer Rus. Von hier aus verbreitete sich die russische Religion. Nie wird die Ukraine für Russland Ausland sein.«

Dazu passt, was die Leser aus den Zeitungen erfahren – es geht zu wie in einem Planspiel, mit den beteiligten Nationen als verschiebbaren Figuren: »Verkündete Russland zu Beginn des Ukraine-Kriegs viele Gebietsgewinne, stockt die Invasion von Wladimir Putin aktuell gewaltig. Mittlerweile geht die Ukraine gar selber mancherorts in die Offensive über, besonders im Süden des Landes.«

Das bespielte Territorium (»Süden des Landes«) muss organisiert und die Organisation geplant werden – wie es der legendäre Schlieffen-Plan von 1905 vorführt, mit dessen Hilfe Deutschlands Feldherren einen künftigen Großkrieg zu gewinnen dachten: »Die Bedingungen, welche die Eisenbahnen auferlegen«, steht dort zum Beispiel, »führen zu einem Aufmarsch des deutschen Heeres der Hauptsache nach in der Linie Metz-Wesel. Hier sollen 23 Armeekorps, 12½ Reservekorps und 8 Kavallerie-Divisionen versammelt werden, um demnächst mit einer Linksschwenkung gegen die Linie Verdun-Dünkirchen vorzurücken. Dabei sollen die Reservekorps des nördlichen Flügels die rechte Flanke, vorzugsweise gegen Antwerpen, die Reservekorps des südlichen Flügels die linke Flanke gegen ein Vorgehen des Feindes auf dem linken Moselufer aus der Linie Toul-Verdun decken.«

Menschen? Fehlanzeige. Stattdessen: Menschenmaterial, beliebig verfügbar und gegliedert in »Korps« oder »Divisionen« sowie auf »Flügel« verteilt beziehungsweise an »Flanken« eingesetzt.

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