Heft 847, Dezember 2019

Der Mensch der Wissenschaft

Über Schleier und Schleierhaftes von Wolfgang Fach

Zu den ausgeleierten Postulaten des Wissenschaftsbetriebs gehört Humboldts Credo, Wissen floriere nur dort, wo die »Einheit von Forschung und Lehre« praktiziert werde. Was besagt: Vom Lehrenden wird verlangt, sein »Programm so vorzustellen und durchzuführen«, dass »der forschende Blick auf das Thema« immer deutlich bleibt.1 »Forschende Blicke« sollen sich auf den Gegenstand der Lehre richten; vom Gesicht des Lernenden ist keine Rede. Mit dieser Wendung aber sind wir neuerdings konfrontiert: Zu wissen, wie ein Mensch wenn nicht aus-, so doch dreinschaut, erfahren wir jetzt, sei fürs Wissenschaftsgeschäft förderlich, ja unabdingbar.

Kieler Schleier

Das Präsidium der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel (CAU) hat am 29. Januar 2019 eine Richtlinie zum Tragen eines Gesichtsschleiers erlassen. Sie besagt: »Das Präsidium der CAU hat dafür Sorge zu tragen, dass die Mindestvoraussetzungen für die zur Erfüllung universitärer Aufgaben erforderliche Kommunikation in Forschung, Lehre und Verwaltung sichergestellt sind. Zu diesen Mindestvoraussetzungen gehört die offene Kommunikation, welche nicht nur auf dem gesprochenen Wort, sondern auch auf Mimik und Gestik beruht. Da ein Gesichtsschleier diese offene Kommunikation behindert, darf dieser in Lehrveranstaltungen, Prüfungen und Gesprächen, die sich auf Studium, Lehre und Beratung im weitesten Sinne beziehen, nicht getragen werden.« Erläuternd heißt es dazu von Seiten der Universität, die Vollverschleierung des Gesichts sei nur in Lehrveranstaltungen verboten: »Auf dem Campus können Studierende aber auch eine Burka oder einen Niqab, der nur einen Augenschlitz zulässt, tragen.«2

Sind wir also – so Karl Poppers Beitrag zur Milieuforschung – eine »offene Gesellschaft«, die sich nur dann »wehrt«, wenn »Feinde« an ihren Fundamenten rütteln? Dass es in Kiel wieder einmal so weit war, bestreitet das Kieler Asta-Kommuniqué mit aller Vehemenz: »Die Begründung des Präsidiums, eine ›offene Kommunikation‹ sei anders nicht sicherzustellen, halten wir für nichtzutreffend. Kommunikation findet in erster Linie über die Sprache statt, und das gesprochene Wort ist durch eine Gesichtsverschleierung nicht beeinträchtigt. Es stellt sich die Frage, welche Anforderungen das Präsidium an die Gestik und Mimik seiner Studierenden stellt. Der Gesichtsausdruck der Studierenden steht jedenfalls nicht zur Bewertung der Dozierenden, weshalb es keinen Grund gibt, eine verdeckte Mimik in einer Lehrveranstaltung nicht hinzunehmen.«

Was ist dagegen schon einzuwenden? Fragen muss man sich sogar, wie jemand überhaupt auf andere Gedanken kommen konnte. Zweifler mögen die Koryphäen konsultieren. Gerade Karl Popper, der zuständige Übervater, redet einer »menschenleeren« Wissenschaft das Wort: Geistigen Produkten, also Themen, Thesen, Theorien, weist er eine eigene, exklusive Welt (»Nr. 3«) zu. Ins gleiche Horn stößt Max Weber. Für den Türhüter des wissenschaftlichen Betriebs gibt es nennenswerte Fortschritte nur dort, wo das beteiligte Personal keinerlei Aufhebens von sich macht: »Persönlichkeit« auf wissenschaftlichem Gebiet hätte danach nur, wer in völlig uneitler Manier »rein der Sache dient«.3

Gentlemen Working

Die Forderung, der wissenschaftlich aktive Mensch müsse »sich zeigen«, wäre über eine lange Zeit des modernen Forschungsbetriebs hinweg sogar schlichtweg widersinnig gewesen, weil geografische Distanzen bewirkt haben, dass statt Worten Briefe gewechselt wurden. So umfasst beispielsweise die Korrespondenz von Robert Boyle rund 3500 Seiten, und das erste Wissenschaftszentrum, The Royal Society of London, for the Improving of Natural Knowledge, ist hauptsächlich ein Postlager gewesen.4

Statt auf Gestik und Mimik zu setzen, hat man sich eines anderen Kriteriums bedient, um die Wissenschaftlichkeit des geschriebenen Wortes zu taxieren: des sozialen Milieus des Korrespondenten. Jene privilegierte Kohorte, deren Aussagen grundsätzlich als vertrauenswürdig galten, war der Adel.5 In den Worten Thomas Sprats, eines Gründungsmitglieds der Royal Society: Forschung zu betreiben sei »eine treffliche Beschäftigung für die Gentlemen unserer Nation«. Wer also nicht genau weiß, ob einem Gewährsmann zu trauen ist, versichert sich besser dessen Herkunft.

Warum galt der geborene Edelmann – dann wenigstens, wenn er seine fünf Sinne beieinanderhatte – als gemachter Wissenschaftler? Was hat es mehr gebraucht als diese fünf Sinne, um die »Natur« auszuforschen? Das Privileg des Gentleman-Experten sollte nicht etwa darin bestehen, besser sehen oder feiner hören zu können als normale Sterbliche: »Von Natur aus ist die Auffassungsgabe aller Menschen gleich: Wenn der eine rot sieht, sieht kein anderer blau; und Aloen schmecken nicht bitter für den einen, während ein anderer sie als süß einstuft; die unmittelbaren Eindrücke sind immer gleich. Wenn einer klüger ist als der andere, dann nicht deswegen, weil er etwa auf andere Art etwas weiß, sondern weil er mehr Konsequenzen kennt und Argumente gehört hat.«6 Also (reflektiertes) Erkennen versus (stupides) Erleben.

Dennoch, diesen Rat gaben John Locke und andere ihren forschenden Zeitgenossen mit auf den Weg, durfte man dem aristokratischen Einblick nicht einfach blind trauen, sondern musste bestimmte Vorsichtsmaßnahmen walten lassen. Die Sorge galt indes vordringlich den Kommunikationsprozessen. Nicht was richtig war, gab Anlass zu Skepsis, sondern das Problem, wie Wissen davor bewahrt werden könnte, im Lauf seiner Wanderung durch die noble Wissenschaftsgemeinde Schaden zu nehmen: als Folge ungewollter Verfälschungen, unvermeidlicher Übermittlungsfehler, unbewusster Fehldeutungen, unbemerkter Auslassungen etc. pp.

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