Verseuchtes Verhalten
von Wolfgang FachDie Amerikaner haben dafür die griffigste Formel gefunden: »Wash your hands, wear your mask, watch your distance.« Dann kann, so das Versprechen, das tödliche Virus euch nichts anhaben. Gibt es ein attraktiveres Verhältnis zwischen Aufwand und Ertrag?
Und dennoch: Vom Händewaschen abgesehen, über das öffentlich nicht Buch geführt werden kann, haben diese Kulturtechniken, ihrer spektakulären Banalität und Effektivität ungeachtet, der Volksseele in den USA so zugesetzt wie nirgendwo sonst. Es hat sie fast zerrissen. Mit dem Maskengebot schien für viele das Ende jeder Freiheit gekommen, derweil ein Verlust der Nähe entweder als unerträglich galt (Bars, Feiern etc.) oder sogar zur Blasphemie (Gottesdienste) erhoben wurde. Wahre Amerikaner wollten sich, bestärkt durch gleichgesinnte Machthaber und Rechtshüter, die doppelte Wertminderung nicht gefallen lassen. Andernorts – etwa hierzulande – ist der Wahnsinn nicht ganz so eskaliert, gleichwohl hat er auch da eine erstaunliche Intensität erreicht. Dies gilt für den sogenannten Maskenkrieg ebenso wie für das ungesunde Bedürfnis, sich aus gegebenem Anlass zu »vermassen«: 38 000 Menschen kamen in Leipzig zusammen, um gegen die Corona-Politik der Bundesregierung zu demonstrieren.
Die Frage drängt sich auf: Gibt es ein »verseuchtes Verhalten« in dem Sinn, dass Menschen ihren Verstand verlieren, wenn sie mit einer Epidemie konfrontiert sind? Oder anders ausgedrückt: Gehört zur unbeherrschten Seuche auch der »verrückte Augenblick« (Aristide Zolberg)?
»Weder Gottesfurcht noch Menschensatzung«
Von einem dieser Augenblicke handelt Thukydides’ Schilderung des Athener Pestausbruchs 430 v. Chr.1 Er erzählt von Leiden und Leidenschaften, deren grässlicher Verlauf sich durch keine Kur hätte aufhalten lassen: Nachgerade sachgesetzlich haben sie den »dünnen Lack der Zivilisation abgesprengt«.2 Denn das »Furchtbarste an dem ganzen Übel« sei »die Mutlosigkeit« gewesen, »sobald sich einer krank fühlte«. Denn alle überließen sich gleichermaßen »der Verzweiflung, gaben sich völlig auf und leisteten keinen Widerstand«, weshalb sie einer nach dem andern »wie das Vieh dahinstarben«. Aber was hätten sie tun sollen? Waren doch schon die allgemeinen Umstände so, dass an ein vernünftiges Verhalten nicht zu denken war: Eine kriegsbedingte Landflucht brachte gerade diese Neuankömmlinge in besondere Bedrängnis: »Denn da nicht genug Häuser vorhanden waren und sie den Sommer in stickig-heißen Hütten zubringen mussten, starben sie in wüstem Durcheinander dahin: Tote und Sterbende lagen übereinander«, wer noch ein letztes Stückchen Leben verspürte, wälzte »sich auf den Straßen und bei allen Brunnen, in wildem Verlangen nach Wasser«.
Im Gefolge des Chaos zerfielen die ordnungsstiftenden Rituale der Athener: »Alle Gebräuche, an die sie sich früher bei Begräbnissen gehalten hatten, wurden in der allgemeinen Verwirrung erschüttert; jeder begrub, wie er konnte.« Besonders skandalös: »Auf einen fremden Scheiterhaufen legten sie ihre Toten, bevor noch die, die ihn aufgeschichtet, dazukamen, und zündeten ihn an; andere warfen die Leichen, die sie trugen, auf eine schon brennende oben drauf und gingen fort.« Auch andere Hemmschwellen konnten sich unter solchen Umständen nicht halten. So plünderte der arme Schlucker, dem noch ein Tag zu leben blieb, das Haus des reichen Nachbarn, den die Seuche schon dahingerafft hatte.
Thukydides berichtet auch, dass blutiger Ernst unversehens in irrwitzigen Furor umschlagen konnte. So hielten die Leute »es für recht, das Angenehme möglichst rasch und lustvoll zu genießen, da ihnen ja Leben und Geld nur für den einen Tag gegeben seien.« Weder »Gottesfurcht noch Menschensatzung« vermochte diese Wahnsinnigen in Schranken zu halten, da die Seuche sowieso zwischen Spreu und Weizen nicht unterscheiden würde. Kurzum, Athen durchlebte einen moment of madness, von dem wir »Modernen« uns eigentlich kein Bild machen können: den, wenn man so will, größten Furor aller Zeiten.
»The self-inflicted quarantine was successful«
Dass Menschen, auf sich allein gestellt, unter Stress leicht zu »Hyänen« werden, ist die attische Lektion und sagt uns der gesunde Menschenverstand.3 Allerdings gibt es, wiewohl unter anderen Umständen, einen Fall, der als perfektes Gegenbeispiel taugt – und als solches auch heute ins Feld geführt wird, wenn besorgte Zeitgenossen nach hilfreichen Vorbildern suchen.4
Eyam, ein Städtchen im Norden Englands, lebt heute ganz vom Tourismus, und dieser verdankt sich ausschließlich einer Episode aus dem Pest-Jahr 1665. Auf sie ist – bei der Suche nach historischen Beispielen, an denen unsereins sich aufrichten könnte – sogar die Washington Post gestoßen: »In einem Augenblick, da Regierungen weltweit Quarantänen verhängen, um die Verbreitung von Covid-19 zu unterbinden, lohnt es sich, an Eyam und seine Geschichte zu erinnern.« Unserer Erinnerung wert soll sie sein, weil allem Anschein nach einfache Menschen für einmal ihren Kleingeist besiegen konnten: »Die Einwohner, befallen von der Schwarzen Pest, fassten den heroischen Entschluss, sich von der Umwelt abzuriegeln, um zu verhindern, dass die Seuche sich auf andere Gemeinden ausbreitet.« Hunderte starben. Das sei »Eyams Vermächtnis«, sagt man uns, und davon könnten wir Heutigen uns eine Scheibe abschneiden.5
Wie konnte der Eindruck entstehen, Eyam demonstriere, dass Menschen an Krisen auch wachsen, sich in hochherzige Wesen verwandeln können und nicht zwangsläufig aufs attische Niveau herabsinken müssen? Eine Kollektivverwandlung von solcher Dramatik kommt nicht aus heiterem Himmel – es sei denn, man lege Wert darauf, dass zwei Gottesdiener ihre Hände im Spiel hatten: der Gemeindepfarrer, »the heroic and saintly William Mompesson« (Geraldine Brooks), dem sein Vorgänger Thomas Stanley sekundierte.6 Die Entscheidung zur Selbstquarantäne ging auf ihre Initiative zurück, beschlossen wurde der cordon sanitaire dann von einer ad hoc einberufenen Gemeindeversammlung. Wer allerdings erwartet, dass bei dieser Gelegenheit gottgläubige Angelsachsen in einem Augenblick christlicher Erleuchtung beschlossen hätten, sich heldenhaft für »Auswärtige« zu opfern, wird enttäuscht. Die zwei Geistlichen kannten ihre Schäfchen besser und bauten nicht zuletzt darauf, dass eine populäre Alternative umständehalber ausfiel: die Exit-Option, bei (geografisch) entfernten Verwandten sicheren Unterschlupf zu finden.
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