Kritik und Krawall
von Wolfgang FachPräsident Biden sei Amerikas »biggest asshole«. So hat sich vor einiger Zeit ein prominenter Landsmann öffentlich geäußert – jemand, den man (sprachlich) überall, nur nicht in der Gosse vermutet hätte. Wer allerdings der Hoffnung war, diesen ungenierten Ehrabschneider werde deshalb irgendein Bannstrahl treffen, sah sich getäuscht. Kein Anwalt ist in die Spur gegangen, weder von Staats noch Rechts wegen.
Der Wert der Würde
Aber auch andersherum wird ein Schuh draus: Hierzulande ist der »Höchste« so unwichtig, dass man sich über ihn eigentlich gar nicht aufregen mag. Seine Macht hat er vor langer Zeit verloren. Schon Hegel notiert diese Verschiebung: Moderne Zeiten sind dadurch charakterisiert, dass, selbst wenn ganz oben im Staat noch eine Majestät thront, dieser lediglich notarielle Geschäfte übertragen werden. Soll heißen: Sie unterschreibt Gesetzesvorlagen »ihrer« Administration, damit jedermann wissen kann, was Bürger anstellen dürfen oder seinlassen müssen. Unter solchen Umständen regiert faktisch die staatliche Verwaltung – und »Souveräne« sind dann alles andere als das, weshalb es sogar ein Rätsel wäre, sollte sich überhaupt jemand finden, der sie beleidigen will. Diese Würde ist, zugespitzt formuliert, politisch (fast) nichts wert.
Für die Vereinigten Staaten aber gelten andere Gesetze. Als sie geplant wurden, standen die »Bauherren« (Jefferson, Madison etc.) noch viel zu sehr unter dem Eindruck der britischen Glanz-und-Gloria-Monarchie, als dass es ihnen möglich gewesen wäre, in Hegels Bahnen zu denken. Daher ist »in ihren Debatten – oder auch im Verfassungstext – herzlich wenig davon die Rede, wie eine Staatsverwaltung auszusehen hätte«. Den Experten von damals galt als ausgemacht, dass der Präsident es richten müsse und alles Weitere in die Hände von Schreiberlingen gelegt oder von Briefträgern erledigt werden könne. Nicht zufällig wurde ausführlich darüber debattiert, welcher Titel diesem Amt wohl angemessen wäre. »His Majesty the President« ist am Ende zwar verworfen worden, doch dass dieser Vorschlag ernsthaft zur Debatte stand, lässt erahnen, was man sich im Innersten gewünscht hat, nämlich »a king by a different name« (so der damalige Kriegsminister James McHenry).
Die Zeiten haben sich geändert, die Verhimmelung hingegen ist noch immer nicht aus der Welt. Mit gutem Grund sprechen wir daher vom »präsidentiellen Regierungssystem«. Einer wie Donald Trump hat sich das nicht zweimal sagen lassen und prompt über die Stränge geschlagen. Man denke nur an sein »royales« Missverständnis, er dürfe per Federstrich die ganze Nation auf seine persönlichen Präferenzen verpflichten. Oder an seine selbstherrliche Marotte, jedes Geheimdokument spirituell – »by thinking about it« – in eine Privatnotiz verwandeln zu können.
Umso rätselhafter bleibt, wie es sein kann, dass nicht alleine »king«, sondern auch »asshole« als »anderer Name« infrage kommt.
Poet oder Prolet
Das (in dieser Hinsicht) libertäre Amerika hat immerhin darauf gesehen, dass seine Bürger wenigstens in ernsten Zeiten – wenn gesteigerter Konsensbedarf besteht – besser darauf verzichten, die Obrigkeit anzupöbeln. So wurde schon 1798 (anlässlich anhaltender Scharmützel mit Frankreich) der Sedition Act verabschiedet, demzufolge mit einer Geld- oder Gefängnisstrafe rechnen musste, wer »falsche, skandalöse oder bösartige Meldungen« über den Präsidenten in die Welt setzt, egal ob schriftlich oder mündlich. Unter Berufung darauf hat seinerzeit John Adams (Präsident von 1797 bis 1801) rund zwei Dutzend Personen angeklagt (überwiegend Herausgeber regierungskritischer Zeitungen). In der Neuauflage des Gesetzes (1918) ist dann allerdings nur noch von einem »beleidigten« Allerlei einschlägiger Institutionen und Symbole die Rede: »the form of government of the United States, or the Constitution of the United States, or the military or naval forces of the United States, or the flag«.
Von dieser Attitüde ist, bis auf weiteres wenigstens, nicht mehr viel zu spüren. Zwar sind kollektive Gefühlswallungen gelegentlich aufgetreten, doch der Trend zur Toleranz, sprich: Indifferenz war auf lange Sicht nicht aufzuhalten. Den Schlusspunkt unter diese Entwicklung hat Amerikas Supreme Court 1964 gesetzt. Mehrheitlich sind seine Richter zu dem Ergebnis gekommen, das Land habe sich unwiderruflich dem Prinzip verschrieben, die Diskussion öffentlicher Angelegenheiten solle »uninhibited, robust, and wide-open« verlaufen. Darin eingeschlossen seien »vehemente, scharfe und gegebenenfalls auch hässliche Attacken auf die Regierung und öffentliche Würdenträger«. Bei anderer Gelegenheit hat 1971 der Verfassungsrichter John Marshall Harlan diese Laisser-faire-Attitüde auf ihren (seiner Meinung nach) letzten Grund zurückgeführt: die Relativität des Geschmacks. Des einen Prolet ist des anderen Poet: »One man’s vulgarity is another’s lyric.« Was offenbar auch die Mitteilung lizensiert, der Präsident sei ein »asshole«.
Biden ist nur das jüngste Opfer dieser überschäumenden Indifferenzwelle. Selbst die Allergrößten und schon längst Toten sind ihr nicht entgangen – während es hierzulande strafbar ist, das Andenken jedes x-Beliebigen zu »verunglimpfen«, sind dort selbst ein Abraham Lincoln oder George Washington Freiwild für große Mäuler. Und kleinere Geister werden von ihrer Kleinheit keineswegs geschützt: Ronald Reagan wurde als »versteinertes Schwein« beschimpft, dessen Verstand Henry Kissinger als »vernachlässigenswert« eingeschätzt hat; George Bush (der Ältere) sah sich mit dem Vorwurf konfrontiert, ein »fucking Nazi« zu sein; Bill Clinton musste sich anhören, dass man ihn als »Drecksack« beschimpft; Tucker Carlson konnte Obama folgenlos als »Weichei« bezeichnen. Und so weiter.
Was Biden angeht: Er ist sogar selbst in die Offensive gegangen und hat Trump bei Gelegenheit als »pompous asshole« bezeichnet, natürlich folgenlos, in jeder Hinsicht. Andererseits musste kein Leidensgenosse auch nur annähernd so viel schlucken wie er – was nicht zuletzt dadurch erklärt werden kann, dass frustrierte Verliererhorden versuchen, seine Wahl als skandalöses Betrugsmanöver darzustellen. Nach dem Motto: Wenn ein Idiot dieses Kalibers gewinnt, dann müssen finstere Mächte am Werk gewesen sein.
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