Heft 871, Dezember 2021

Wählen gehen

von Wolfgang Fach

Nach den Bundestagswahlen 2013 hatte das Max-Planck-Institut zwei bemerkenswerte Trends festgestellt. Zunächst einen Rückgang der Wahlbeteiligung – dabei sei, erfahren wir, insbesondere bedenklich, dass diese »niedriger als jemals zuvor« gewesen sei und außerdem zum allgemeinen Trend passe, bei »Bundestags- und Landtagswahlen genauso wie bei Kommunal- und Europaparlamentswahlen«. Dann die andere Misere: eine Schwächung der traditionell staatstragenden Kräfte, denn »gemessen an den Wahlberechtigten ist der Stimmenanteil der beiden Volksparteien seit den siebziger Jahren dramatisch zurückgegangen« – was auch »an der wachsenden Zahl der Nichtwähler« liege.1 So oder so geraten also jene ins Visier und machen Sorgen, die nicht wählen gehen.

Die Qual der Wahl

Wenn sich etwas »dramatisch« verändert, ist Gefahr im Verzug. Aber: Wen kümmert die Wahlmüdigkeit eigentlich? Gerade bei den involvierten Parteien trifft dieser Kassandraruf auf taube Ohren, denn ihr Interesse gilt Prozenten und Sitzen. Genauer besehen bleibt eigentlich nur der Bundespräsident mit seiner Pflicht, Schaden vom deutschen Volk (und nicht nur dieser oder jener Partei) abzuwenden. Ob ihm das gelingt, entscheiden freilich nicht seine Schutzbefohlenen, sondern es tritt an ihrer Stelle alle paar Jahre eine sogenannte »Bundesversammlung« zusammen, deren einzige Aufgabe darin besteht, ihn oder auch einen anderen auf den reservierten Thron zu hieven. Kurzum: Volks-Theater.

Diese Klage über den abgehalfterten Demos ist nicht neu. Besonders prägnant hat sie Carl Schmitt formuliert, der dabei die Weimarer Republik im Auge hatte: »Es gehört zu den undemokratischen, im 19. Jahrhundert aus der Vermengung mit liberalen Grundsätzen entstandenen Vorstellungen, das Volk könne seinen Willen nur in der Weise äußern, dass jeder einzelne Bürger, in tiefstem Geheimnis und völliger Isoliertheit, also ohne aus der Sphäre des Privaten und Unverantwortlichen herauszutreten, unter ›Schutzvorrichtungen‹ und ›unbeobachtet‹ […] seine Stimme abgibt, dann jede einzelne Stimme registriert und eine arithmetische Mehrheit berechnet wird.« Ganz »elementare Wahrheiten« seien dadurch in Vergessenheit geraten, vor allem die, dass sich das Volk als Kollektiv auf diese Weise nicht ausdrücken könne.2

Bei Niklas Luhmann verwandelt sich dieser Defekt freilich in eine Funktion: »Die politische Wahl«, erläutert er, »eignet sich nicht für den Ausdruck konkreter Interessen, sowenig wie für die Entscheidung konkreter Konflikte« – weshalb die Gewählten im Namen des (fiktiven) »Wählerauftrags«, wenn nicht gerade nach Lust und Laune, so doch nach eigenem Gutdünken agieren können.3

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