Heft 875, April 2022

Pink

von Sibylle Severus

Die Idee, die Farbe Pink zu kreieren, muss während des Betrachtens von Sonnenaufgängen an Föhntagen entstanden sein. Der Rauch drückt sich dann quer aus den Kaminen. An solchen Tagen ist wenigstens der Morgen eindrücklich. Es dauert wenige Minuten, und das Farbspektakel ist vorbei. Eine dünne Mondsichel bleibt auf das Firmament gehaucht. Diejenigen, die einen Schirm besitzen, lassen ihn wegen des blauen Himmels zu Hause. Eine Stunde später: Wolkenbrüche.

An solchen Tagen ist es absurd, eine Frisur – oder überhaupt etwas – zu wollen. Auch Sophia war ohne Schirm aus dem Haus gegangen. Sie hatte die Begabung, in den wichtigen Momenten des Lebens das Falsche zu tun.

Als Aldo schwungvoll aus der Tiefe seines Coiffeursalons auf Sophia zuglitt, erschrak sie: Die Iris seiner Augen war pinkfarben, nachdem sie bei den letzten Sitzungen mit Sicherheit kornblumenblau gewesen war. In der Annahme, durch Ignorieren eine Missbildung ungeschehen zu machen, hatte sie auf Aldos Ohren geschaut, auf sein Kinn, über seine Haare hinweg in die Luft.

Ob es ihm gut gehe, fragte sie.

Ob er übermüdet sei, fragte sie.

Ob er den Föhn spüre, das fragte sie zweimal.

Nichts von allem, hatte Aldo gelacht, er sei wie neu.

Sophia knetete ihre Hände im Schoß; sie versuchte, geeignete Worte dafür zu finden, wie sie sich ihre Frisur vorstelle. Dazu hätte sie dem Gegenüber in die roten Augen sehen und Zeichen des Verstehens wahrnehmen müssen.

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