Pink
von Sibylle SeverusDie Idee, die Farbe Pink zu kreieren, muss während des Betrachtens von Sonnenaufgängen an Föhntagen entstanden sein. Der Rauch drückt sich dann quer aus den Kaminen. An solchen Tagen ist wenigstens der Morgen eindrücklich. Es dauert wenige Minuten, und das Farbspektakel ist vorbei. Eine dünne Mondsichel bleibt auf das Firmament gehaucht. Diejenigen, die einen Schirm besitzen, lassen ihn wegen des blauen Himmels zu Hause. Eine Stunde später: Wolkenbrüche.
An solchen Tagen ist es absurd, eine Frisur – oder überhaupt etwas – zu wollen. Auch Sophia war ohne Schirm aus dem Haus gegangen. Sie hatte die Begabung, in den wichtigen Momenten des Lebens das Falsche zu tun.
Als Aldo schwungvoll aus der Tiefe seines Coiffeursalons auf Sophia zuglitt, erschrak sie: Die Iris seiner Augen war pinkfarben, nachdem sie bei den letzten Sitzungen mit Sicherheit kornblumenblau gewesen war. In der Annahme, durch Ignorieren eine Missbildung ungeschehen zu machen, hatte sie auf Aldos Ohren geschaut, auf sein Kinn, über seine Haare hinweg in die Luft.
Ob es ihm gut gehe, fragte sie.
Ob er übermüdet sei, fragte sie.
Ob er den Föhn spüre, das fragte sie zweimal.
Nichts von allem, hatte Aldo gelacht, er sei wie neu.
Sophia knetete ihre Hände im Schoß; sie versuchte, geeignete Worte dafür zu finden, wie sie sich ihre Frisur vorstelle. Dazu hätte sie dem Gegenüber in die roten Augen sehen und Zeichen des Verstehens wahrnehmen müssen.
Aldo hatte mit dem Schnitt der Haare begonnen.
Falls etwas abzuwenden gewesen wäre, hätte es sofort geschehen müssen. Der Figaro hatte die Schläfen freigelegt und schnitt vergnügt Zipfel in die Stirn. Als er den Apparat ansetzte, um den Hinterkopf zu rasieren, glaubte Sophia einen Revolver an ihrem Nacken zu spüren.
Sie zwang sich, dem Meister direkt ins Gesicht zu sehen. »Aldo, was haben Sie mit Ihren Augen gemacht?«, sagte sie.
Er hatte von seiner Kundin abgelassen, es schüttelte ihn vor Lachen, er tanzte um ihren Stuhl herum:
»Augenlinsen! In Paris gekauft – lässig, nicht?«
Darauf gab es keine Antwort.
Im Radio erklang eine Solosonate von Johann Sebastian Bach. Aldo hatte gefragt, was das für ein Instrument sei, das sei doch keine Geige.
»Es ist ein Cello«, antwortete Sophia, »Wenn es in hohen Lagen gespielt wird, ist es für Laien kaum von einer Viola zu unterscheiden. Zufällig bin ich kein Laie. Früher spielte ich ein Streichinstrument.«
»Heute nicht mehr?«, hatte Aldo gefragt und die verbliebenen Haarreste mit Farbe eingestrichen.
»Tempi passati!«
Sophia fand keine Worte, Aldo zu erklären, dass sie Tag für Tag stundenlang geübt hatte, um Musikerin, ja Komponistin zu werden. Dass sie keine Unterstützung gehabt hatte für das anspruchsvolle Studium, vor allem keinen Mut zu einer mittleren Mittelmäßigkeit. Die Enttäuschung, ihr Ziel nicht erreicht zu haben und ihren Lebenswunsch als grandiosen Irrtum erkennen zu müssen, war erst mit dem sich Verdingen als Schreibkraft zu ertragen gewesen.
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